Der Augenjäger / Psychothriller
vom Spielfeld verbannen muss. Ein Vater, der sein Kind vernachlässigte. Ein Versteck, dessen Luft fünfundvierzig Stunden und sieben Minuten vorhält, und eine Leiche, der wie meinem Bruder das linke Auge fehlt.«
Nur durch den Einsatz des Polizeireporters Alexander Zorbach war es gestern in sprichwörtlich letzter Sekunde gelungen, die vierte »Spielrunde« des Augensammlers zu vereiteln. Dank Zorbachs Recherchearbeit konnte das Versteck der zuletzt entführten Zwillingskinder gefunden werden. Aber der Journalist musste einen hohen Preis für ihre Rettung bezahlen. Noch während er das Mädchen und den Jungen aus einem Fahrstuhlschacht befreite, hatte sich Frank Lahmann bereits ein neues Opfer gesucht: Zorbachs Sohn Julian, den er verschleppte, nachdem er zuvor bereits dessen Mutter Nicci Zorbach ermordet hatte.
Von Frank Lahmann fehlt seitdem jede Spur. Und das neue Ultimatum, gegen das Alexander Zorbach nun ankämpfen muss, wenn er seinen Sohn lebend wiedersehen will, läuft in wenigen Stunden aus …
Wenn aber Schaden geschieht, so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.
Exodus 21, 23–25
Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.
Matthäus 5, 38 f.
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Johanna Strom
1. Kapitel
M ilde dreizehn Grad, leicht bewölkter Himmel, ein sanfter Septemberwind. Johanna Strom liebte dieses Wetter. Genau das Richtige, um zu sterben.
Der Mann auf der Parkbank neben ihr schien ihren geheimen Wunsch zu spüren, auch wenn er heute noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Er war auch sonst nicht gesprächig. Einmal am Tag, zwei Stunden nach dem Mittagessen, durfte sie in den umzäunten Park der bei Hamburg gelegenen Klinik, um sich »die Beine zu vertreten«, wie die Oberschwester es nannte. In der Tat musste man auf den holprigen Pfaden, die sich durch den alten Baumbestand der psychiatrischen Anstalt schlängelten, höllisch aufpassen, wo man hintrat. Erst gestern war der alte Wischnewski über eine vom ersten Herbstlaub verdeckte Wurzel gestolpert und hatte sich die Hüfte geprellt. »Wär er mal lieber auf den Kopf geschlagen«, hatte sie die Pfleger über den Demenzkranken spotten hören. »Wär nicht weiter aufgefallen.«
Wie fast jeder Patient hier in der Klinik Sankt Pfarrenhopp (von den Anwohnern der Gegend nur »Sankt Pfeil im Kopp« genannt), fühlte sie sich völlig deplaziert. Nicht weil sie gesund gewesen wäre,
oh nein, weiß Gott, das war sie nicht,
sondern weil sie keinen Wert auf Heilung legte. Wäre es nur der Alkoholismus gewesen, der zuerst ihre Würde und schließlich ihre Gesundheit zerstörte, hätte sie sich eines Tages möglicherweise sogar aufgerappelt und den Dämonen gestellt, die sie mit dem Fusel aus den Tetrapaks von der Tankstelle zu ertränken versuchte. Vielleicht hätte sie, falls sie professionelle Hilfe gehabt hätte, sogar zurückgeschlagen, wenn ihr Mann sie wieder hätte fesseln wollen, um ihre »devote Ader zu bedienen«, wie er es nannte. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte sie es noch für eine Art Spiel gehalten, auf das man eingehen konnte, wenn es den Partner denn erfreute.
Sie hatte sich im Bett als Dreilochstute, Ehehure und notgeile Drecksfotze beschimpfen lassen, und anfangs, so musste sie sich verschämt eingestehen, hatte sie eine gewisse Erregung tatsächlich nicht leugnen können, wenn er sie etwas gröber anfasste. Ein Klaps auf den Hintern, die Hand an der Gurgel, so weit, so gut. Sie sah, dass es ihn erregte, und das hatte auch eine Wirkung auf sie selbst; und da sie wusste, wie wütend er werden konnte, wenn sie es einmal ablehnte, sich kurz vor seinem Orgasmus vor ihm hinzuknien, ging sie darauf ein. Sollte er doch seine Träume erfüllt bekommen, die er aus Pornofilmen kannte. War ja nichts dabei.
Hinten, ganz tief unten in einer entfernt liegenden Abstellkammer ihres Bewusstseins, dämmerte ihr der Gedanke, dass es womöglich schon zu spät war. Dass sie die letzte Abzweigung auf der Straße ihres Lebens verpasst hatte, an der es ihr noch möglich gewesen wäre, die Dinge zu korrigieren, bevor sie vollends aus dem Ruder liefen. Sie hatte sich einmal zu oft erniedrigen lassen, hatte einmal zu wenig protestiert. Christian
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