Der Augenjäger / Psychothriller
war, die keine Maske tragen durfte.
Zwei Monate nach dem Auszug von Nicola und Christian, kurz nachdem ihre Tochter spurlos verschwunden war, versuchte sie zum ersten Mal, sich das Leben zu nehmen. Nach dem dritten Fehlschlag, am Tag, als die Polizei die Suche nach Nicola einstellte, wurde sie eingeliefert.
Jetzt war sie schon ein halbes Jahr hier, und dank des Entzugs ging es zumindest ihrem Körper langsam etwas besser. Die Zähne waren ruiniert, die Leberwerte noch immer eine Katastrophe, aber die Schmerzen beim Wasserlassen wurden Tag für Tag erträglicher. Sie schwitzte nicht mehr so stark, und seitdem die Bürste wieder leichter durch die Haare ging, traute sie sich auch nach draußen. Ihre Psyche jedoch war unverändert zerrissen, sie fühlte sich weiterhin wie Abschaum.
Ein Abschaum im Morgenmantel, der allein durch den Klinikpark schleicht.
Der ältere Mann auf der Bank, der ihr stets freundlich zunickte und sie stumm aufforderte, sich zu ihm zu setzen, schien sich an ihrem verlebten Äußeren nicht zu stören. Dank ihres langen Aufenthalts fühlte sich Johanna fast schon zum Inventar der Klinik gehörig.
Sie kannte die meisten ihrer Mitinsassen wenigstens mit Nachnamen, doch bislang hatte sie nicht herausgefunden, aus welchem Grund ihr schweigsamer Sitznachbar hier eingewiesen worden war. Noch nie hatte sie ihn innerhalb des Klinikgebäudes gesehen, weder zufällig auf den Gängen noch mit den anderen im Speisesaal zur Essensausgabe. Doch wann immer sie sich die Beine im Park vertrat, war der altmodisch wirkende Mann zur Stelle. In kerzengerader Haltung, mit korrekt geschnittenem lichten Haar, den Scheitel so scharf gezogen wie die Bundfalte seiner grauen Flanellhosen, verteilte er Brotkrumen unter den Tauben, Meisen, Staren und Spatzen, die sich zu seinen Füßen tummelten. Hin und wieder schenkte er Johanna ein verschmitztes Lächeln und steckte sich selbst eine Krume in den Mund.
In diesen wenigen Momenten ihrer stummen Kommunikation konnte sie sich kaum von seinen Augen lösen, die um so viel jünger, wacher und geheimnisvoller wirkten als der Mann selbst, dessen Alter sie nur schwer einschätzen konnte, irgendetwas in den späten Fünfzigern.
Heute sprach sie ihn an, nachdem sie eine Weile wie gewohnt still nebeneinandergesessen und dem entfernten Rauschen der Stadtautobahn gelauscht hatten.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Selbstverständlich.«
Seine Stimme klang freundlich und erinnerte sie an ihren längst verstorbenen Mathematiknachhilfelehrer, der die Geduld mit ihr auch bei der zwanzigsten Wiederholung nicht verloren hatte.
»Weswegen sind Sie hier?«
Er drehte sich zu ihr, seine außergewöhnlichen Augen sahen sie direkt an. »Ihretwegen.«
Sie lachte auf und erwartete, dass er seine Bemerkung gleich zurücknehmen und damit als Scherz entlarven würde. Aber der Mann blieb ernst.
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ich bin kein Patient. Ich bin ein Besucher.«
»Und Sie besuchen …« Sie zögerte. »Sie besuchen
mich?
«
»In der Tat.«
»Weswegen?«
»Um Ihnen etwas zu zeigen.«
»Was?«
»Den Beweis dafür, dass das Leben es bislang sehr gut mit Ihnen meinte.«
Der Mann klang auf einmal gar nicht mehr freundlich. Er sah auch nicht mehr aus wie ein Frührentner, der im Park die Tauben füttert, weil er mit seinem Tag nichts Besseres anzufangen weiß.
»Sehen Sie sich das hier gut an.«
Er reichte ihr ein Foto. Johannas Pupillen weiteten sich, als ihr Blick auf die gestochen scharfe Aufnahme eines jungen Mädchens fiel.
Es dauerte eine Schrecksekunde, die Grausamkeit und Brutalität des Bildes in seiner Gesamtheit zu begreifen, da sich Johannas Gehirn in einer Art Selbstschutz weigern wollte, das Unvorstellbare zu erkennen.
»Sie können es behalten«, sagte der Alte und drückte ihr das Polaroid in die Hand. »Betrachten Sie es als Ihre Strafe für die Schuld, die Sie auf sich geladen haben.«
Er stand auf, richtete sein Jackett und prüfte den Reißverschluss seiner Flanellhose.
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, die Pflicht ruft. Wie Sie selbst gesehen haben, bin ich mit Ihrer Tochter noch nicht fertig.«
Dann, kurz bevor Johanna schreiend zusammenbrach, schritt der Besucher von dannen. Sein Gang war leicht, federnd und beschwingt. Wie der eines glücklichen und zufriedenen Mannes, der mit sich selbst und seiner Welt im Reinen war.
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Fünf Monate später.
Jetzt.
2. Kapitel
Alexander Zorbach (Ich)
U
nerwünschte Wachheit.
Der schlimmste Horror
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