Der Augenjäger / Psychothriller
mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich die letzte Frage überhaupt gestellt oder nur gedacht habe, also frage ich noch einmal: »Was muss ich tun, damit du ihn freilässt?«
Franks Antwort ist ebenso knapp wie unverständlich. »Dreizehn. Zehn. Einundsiebzig.«
»Was ist das?«
»Eine Zahl.«
»Wofür brauche ich sie?«
»Um die Kiste zu öffnen.«
Es kostet mich eine unglaubliche Kraftanstrengung, den linken Arm zu heben. Endlich habe ich es geschafft, und der Lichtkegel der Taschenlampe erfasst den Gegenstand, der exakt in der Mitte des quadratförmigen Frachtraums zu meinen Füßen steht.
Die hölzerne Box mit den angelaufenen Messingbeschlägen erinnert an eine in die Jahre gekommene Schmuckschatulle. Nicci besaß ein ähnliches, wenn auch kleineres Modell, das heute noch auf der Ablage am Kopfende unseres Ehebetts steht, ohne jemals ein einziges Schmuckstück enthalten zu haben. Meine Frau hatte die bauchige, mit rotem Samt ausgeschlagene Schatulle auf dem Flohmarkt an der Straße des 17. Juni entdeckt und wie so viele andere sinnlose Gegenstände in unser Haus am Rudower Dörferblick geschleppt. Allein die Erinnerungen, die diese Box jetzt in mir auslöst, treiben mir die Tränen in die Augen. Was würde ich darum geben, mich ein letztes Mal mit Nicci über die unnützen Staubfänger in unserem Schlafzimmer streiten zu können. Doch diese Möglichkeit hat mir Frank für immer genommen. »Kennst du die Redewendung ›Ich liebe dich mehr als mein Leben‹?«, höre ich ihn fragen. Mein Ohr, gegen das ich das Handy presse, brennt wie Feuer. Ich knie mich nieder und greife nach dem Nummernschloss, mit dem die Box gesichert ist.
»Ich kann dich nicht hören, Alex.«
»Ja. Ja, ich kenne die Redewendung«, antworte ich, während ich die schwergängigen Zahlenräder drehe.
Dreizehn. Zehn. Einundsiebzig.
»Und? Tust du es?«
»Was?«
Die letzte Ziffer rastet ein, und das Schloss springt mit unerwarteter Kraft auf, löst sich von dem Riegel und fällt zu Boden. Ich öffne die Kiste und finde darin exakt das, was ich erwartet habe.
»Liebst du Julian mehr als dein Leben?«
»Ja.«
»Dann beweise es.«
»Ich soll mich erschießen?«, frage ich und nehme die Pistole aus der Schatulle. Sie fühlt sich leicht an wie eine Spielzeugwaffe, doch aus meinem längst vergangenen Leben als Polizist weiß ich, welch verheerende Wirkung ein gezielter Schuss damit erzielen kann. Das Modell in meiner Hand ist das gleiche, mit dem ich vor Jahren eine psychisch gestörte Frau erschossen habe, die ein Baby ermorden wollte.
»Ja. Aber du musst es richtig machen.«
Richtig?
»Was heißt das?«
»Hörst du dieses Geräusch hier?«
Ich presse das Handy noch dichter ans Ohr, und das Ticken einer Stoppuhr wird lauter. Ich muss mich beherrschen, um Frank nicht anzubrüllen.
Lass deine kranken Spielchen. Gib mir Julian zurück. Und dann versteck dich besser als jedes deiner Opfer. Denn sollte ich oder irgendjemand anderes dich finden, wirst du …
»Du hast noch vier Minuten und sechs Sekunden«, sagt Frank, und das Ticken der Uhr wird leiser. »Setz den Lauf der Waffe auf dein linkes Auge und drück ab. Sobald ich deine Leiche in den Nachrichten sehe, lasse ich Julian frei. Solltest du aber zu lange zögern, hast du deinen Joker verspielt, und ich werde Julian ersticken und ihm das linke Auge entfernen.«
So wie all den anderen Kindern zuvor.
»Ach, und noch was: Sollte ich auch nur das geringste Gefühl haben, dass du bluffst …« Frank macht eine kurze Pause, »… sollte ich aus irgendeinem Grund Zweifel an deinem Tod haben, werde ich Julian hinrichten, und du wirst seine Leiche niemals finden. Dann wirst du nicht deinen Sohn, sondern nur noch seine seelenlose Hülle suchen, und es wird nichts geben, was du begraben kannst. Noch zappelt der Fisch in meinem Netz. Noch kann ich der Polizei Hinweise geben, wie sie Julian finden. Hinweise, die sein Leben retten. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, krächze ich.
»Und weshalb höre ich dann immer noch deine Stimme? Ich an deiner Stelle würde endlich die verdammte Waffe ansetzen, so wie ich es dir gesagt habe! Die Zeit rennt dir davon!«
Ich knie immer noch vor der Schatulle. Die Taschenlampe habe ich auf den Boden gelegt, um in der einen Hand das Telefon und in der anderen die Waffe halten zu können. Jetzt stehe ich langsam wieder auf. Hinter der Stahltür ist es still geworden, was darauf schließen lässt, dass Stoya seine Drohung wahr gemacht hat und abgezogen
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