Der Augensammler
abgegeben.
Sie weinte und hörte nicht, wie der Rettungsassistent neben ihr aufstand. Er räusperte sich verlegen. »Wusstest du, dass der Weltrekord im Luftanhalten bei siebzehn Minuten und vier Sekunden liegt?« Das jäh in ihr aufbrechende Gefühl war so überwältigend, dass Alina zu ersticken glaubte.
»David Blaine, ein Apnoetaucher. Aber der wurde zuvor dreiundzwanzig Minuten lang mit Sauerstoff versorgt.« Dicke Tränen quollen aus ihren blinden Augen. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich die gesamte Welt verändert. Die Pole der Erde waren verschoben, Deutschland lag nicht mehr in Europa, Berlin befand sich auf einem anderen Planeten, und sie war kein Mensch mehr, sondern nur noch Energie.
»Aber hey, knapp drei Minuten ohne Training sind doch auch nicht so schlecht, oder?« Positive Energie.
Alina sprang ruckartig auf und wollte nur noch eins: dem Mann, zu dem die heisere, brüchige Stimme gehörte und der vor dem Eingang des Rettungswagens stand, in die Arme fallen.
»Du lebst?«, weinte sie und war glücklich.
»Ja, aber sei froh, dass du nicht sehen kannst, wie scheiße ich gerade aussehe.«
Zorbach fiel in ihr Lachen ein. Sie hörte, wie er Anstalten machte, zu ihr in den Wagen zu klettern. »Und Tobias?«
Sie stützte sich an der Kante der Krankentrage ab, auf der sie bis eben noch gelegen hatte, und spürte, wie Zorbach innehielt.
Nein, bitte nicht.
Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. »Er war sechs Minuten unten«, hörte sie die schreckliche Information und wunderte sich, weshalb Alex immer noch so gefasst sprach. Ruhig, ja beinahe fröhlich. »Er war zweimal weg. Aber er scheint ein zäher Hund zu sein. Das Herz schlägt wieder. Es ist noch kritisch, und er wird eine Zeitlang im künstlichen Koma bleiben müssen, aber die Ärzte hoffen, sie bringen ihn durch.«
Von dieser Sekunde an hielt sie nichts mehr. Sie streckte die Arme aus, vergaß jede Vorsicht und lief einfach in die Richtung der offen stehenden Doppeltüren des Rettungswagens zu der Einstiegstreppe, auf deren oberster Stufe sie Zorbach vermutete. Sie lachte, euphorisiert von der Gewissheit, er werde sie schon auffangen, sollte sie fallen. Alexander lebt. Beide Kinder befreit.
Jetzt, so war sie sich sicher, würde alles gut werden. Nichts konnte mehr schiefgehen.
Selten hatte ein Mensch sich so sehr geirrt.
3. Kapitel
(1 Stunde nach Ablauf des Ultimatums. 7.27 Uhr)
Alexander Zorbach (Ich)
Es gibt nur wenige Momente, in denen es uns Menschen gelingt, einzig und allein für den Augenblick zu leben. In denen es keine Zukunft und keine Vergangenheit gibt, sondern nur ein Hier und ein Jetzt.
In meinem Leben gab es zwei dieser Momente, an die ich mich bewusst erinnern kann. Einmal, als ich Julian zum ersten Mal als Baby auf den Arm nahm. Und dann jener Augenblick, an dem ich, in warme Decken gehüllt, mit weichen Knien auf der Metallstufe eines Rettungswagens auf Alinas Umarmung wartete.
Es war die Sekunde meiner größten Euphorie und gleichzeitig meiner tiefsten Erschöpfung. Noch vor einer Minute hatte ich mir meinen Weg hierher erkämpfen müssen; vorbei an besorgten Ärzten, die mich nach der gelungenen Wiederbelebung nicht von den Geräten hatten nehmen wollen; vorbei an Stoya, der mich am liebsten in der Sekunde verhört hätte, in der mein Herzschlag festgestellt worden war.
Meine Bronchien waren noch voller Wasser, ich benötigte eine intensive klinische Überwachung, so wie Tobias, der noch sehr viel länger ohne Sauerstoff hatte auskommen müssen. Aber meine Gesundheit war mir in jenem Augenblick der grenzenlosen Freude ebenso gleichgültig wie die abertausend Fragen, die wir noch zu klären hatten, sobald wir wieder zur Ruhe kommen durften. Wieso hat Alina immer nur ein Kind gesehen? Weshalb dachte sie, es sei in seinem Versteck gestorben, wenn Tobias noch am Leben ist?
Und wie oft hatte ich mich in den letzten Stunden nach dem Grund gefragt, weshalb ihre unerklärlichen Erinnerungen teilweise stimmten - das krumme Ultimatum, die Beschreibung des Bungalows -, uns aber im entscheidenden Moment beinahe in die Irre geführt hätten:
»Alles, was ich vorhin gefühlt habe, war ein Schiff. Keine Fabrik, keine Lagerhalle.«
Auch die Frage, weshalb der Augensammler ausgerechnet mich zu seiner Spielfigur gemacht hatte, indem er mir Alina schickte, mich zu der sterbenden Frau führte und das Foto auf dem Nachttisch meiner Mutter plazierte, zählte nicht mehr. Ich wollte nicht einmal wissen, wer der
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