Der Augensammler
lange nicht mehr erwidert wurde, konnte ja kein Licht mehr ankommen. Und das, was Zorbach vorhin gelungen war, war ihr jetzt unmöglich. Die Haltebügel von TomToms Geschirr waren verbogen, und sie allein war nicht kräftig genug, um den Fahrstuhlschacht wieder zu öffnen. Weder TomTom noch Lea noch ihre verbrannte linke Hand waren ihr bei den vergeblichen Versuchen eine große Hilfe gewesen.
Und so war ihr nichts anderes übriggeblieben, als zu warten und dabei das vor Erschöpfung zitternde Mädchen zu beruhigen, indem sie ihr Gesicht in Leas Haaren vergrub. Obwohl Alina jegliches Zeitgefühl verloren hatte, war sie sich dennoch sicher, dass die Männer viel zu spät gekommen waren.
Vier Polizisten. Viele Minuten zu spät. Sie drangen fast gleichzeitig in das Gebäude, so dass es sich anhörte, als quelle eine einheitliche Masse in das Treppenhaus. Die Masse löste sich auf, als sie Lea sahen. Zuvor noch hatte ihr Auftrag gelautet, Zorbach zu verhaften. Der Anblick des entführten lebenden Mädchens in Alinas Armen änderte alles.
Erst da begannen sie mir zu glauben, dachte Alina jetzt, aber es lag keine Befriedigung in diesem Gedanken. »Sind sie noch hier?«, fragte sie den Mann im Rettungswagen, der ihr immer noch die Hand verband. Oder hat man sie schon weggeschafft? Sie spürte eine sanfte Körperbewegung und nahm an, dass sie durch ein Kopfnicken des Assistenten verursacht worden war.
Oder durch ein Kopfschütteln.
»Verdammt noch mal, behandeln Sie mich nicht wie ein Kleinkind, das nichts wissen darf. Ich habe doch alles mit angehört.«
»Das ist vergebene Liebesmüh. Die waren schon steif, als ich sie rauszog«, hatte der Polizist gesagt, der vor einer halben Stunde draußen vor ihrem Rettungswagen eine Zigarette geraucht und sich mit einem Kollegen über den Einsatz unterhalten hatte.
»>Da könnten sie eher den Teddy meiner Tochter beatmen.« Am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen, hätte dem Mann eine Ohrfeige gegeben und ihn angeschrien: »Wie kannst du nur so reden, du Arschloch? Es stimmt, du hast die Tür geöffnet. Damit hatten sie wieder Licht. Du bist hineingesprungen, hast mit der Taschenlampe auf das Wasser geleuchtet und deine Hand hineingestreckt, um sie an dem Seil nach oben zu ziehen, in dem sie sich verfangen hatten. Aber du bist verdammt noch mal zu spät gekommen.«
»Hatten Sie es schon einmal mit einem Ertrinkungsopfer zu tun?«, fragte sie den Rettungsassistenten traurig, der ihre Mullbinde mit einem abschließenden Pflaster versah. Noch gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten. »Hm hm.«
Entweder hatte der Mann Anweisungen, ihr nicht zu antworten, oder er war selbst viel zu erschrocken von dem, was sich hier auf dem Fabrikgelände abgespielt hatte. »Wie lange kann es dauern ...« Alina schluckte. »Ich meine, wann stellen Sie nach einem Badeunfall die Reanimationsversuche ein?«
Offenkundig wähnte er sich jetzt auf sicherem Terrain. »Schwer zu sagen. Einmal haben wir einen Mann nach zwanzig Minuten zurückgeholt. Aber das ist die Ausnahme.«
»Und was ist normal?«
Alina tastete nach ihrem Verband an der linken Hand. »Ein bis zwei Minuten.« Zwei Minuten?
So lange hatte es alleine schon gedauert, bis Zorbach in den Fahrstuhlschacht gelangt war. Weiß Gott, wie lange zuvor Tobias schon unter Wasser hatte aushalten müssen. Unter Stress fliegen die Minuten wie Sternschnuppen vorbei, so schnell, dass man sie meist gar nicht bemerkt. Aber vielleicht war es ja eher wie bei einer Wurzelkanalbehandlung. Vielleicht hatten sich die Sekunden wie Stunden angefühlt, aber in Wahrheit war der Zeiger der Uhr gar nicht so weit vorangeschritten, wie sie befürchtete? Alina wurde übel. Das Überleben zweier Menschen war zu einer nüchternen Mathematikaufgabe geworden. Eine Addition von Zeitspannen, deren Summe am Ende den sicheren Tod ergeben würde. Fünf Minuten, bis der Fahrstuhl geöffnet war; zwei Minuten, die Zorbach in dem eisigen Wasser der Kabine hatte verbringen müssen; weitere zwei Minuten, bis er nach oben gezogen wurde . Das war zu viel. Zu viel für das Kind, für Alex, und am Ende, das war ihr mit einem Mal klargeworden, würde es auch für sie zu viel sein. Mit Zorbach war es wie mit ihrem Augenlicht. Erst in dem Moment seines Verlusts hatte sie seine wahre Bedeutung für ihr Leben erkannt. Er hätte seine Uhr nicht weggeben sollen, dachte sie und konnte den Gedanken nicht stoppen, obwohl sie wusste, wie kindisch er war. Damit hat er seine Zeit
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