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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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übergehen?
    Ich wusste, bald würde ich es erfahren. Lange würde ich der Versuchung nicht mehr widerstehen können, den Mund zu öffnen und tief, ganz tief einzuatmen. Dieses süße, unwiderstehliche Gefühl. Wie eine Sucht. Eine tödliche Droge, der man sich hingeben will.
    Ich spürte, wie sich meine Hände von Tobias' Körper lösen wollten, etwa in der Sekunde, in der sich das Seil in meinem Bein verfing.
    Ein Seil? Scheiße, verdammt, wo kommt das Seil denn auf einmal her?
    Ich rüttelte mit meinem freien Arm daran und war erstaunt, dass es nicht nachgab. Ich war ohnehin zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, und so überlegte ich gar nicht erst, ob das Seil am Boden eingeklemmt oder in der Decke verschraubt war, auch wenn dies den entscheidenden Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten mochte. Denn davon hing es ab, in welche Richtung ich mich jetzt hangelte. Mich und Tobias Traunstein, der von Sekunde zu Sekunde schwerer und lebloser in meinen Armen zu werden schien.
    Ich strampelte wie ein Taucher, nur dass an meinen Füßen keine Flossen, sondern schwere Stiefel klebten, die mich nach unten reißen wollten. Wirklich nach unten?
    Zog mich mit nur einem Arm Stück für Stück hinauf. Oder hinab?
    Hangele ich mich in die falsche Richtung? In mein Verderben?
    Ich riss die Augen auf, auch wenn ich nicht glaubte, irgendetwas hier unten in der pechschwarzen Dunkelheit erkennen zu können, aber mein Kopf fühlte sich an, als platze er, und es war mehr ein lächerlicher Reflex als eine bewusste Entscheidung. Fast als wollte ich über meine Augen einen Druckausgleich herbeiführen oder Sauerstoff aus dem Brackwasser filtern. Umso erstaunter war ich, als ich wirklich etwas sah. Licht!
    Tatsächlich war dahinten, dort, wo das Seil endete, ein kleiner, dünner Strahl.
    Die Spinner haben alle recht, war mein letzter Gedanke, bevor mir das Seil aus den Fingern glitt.
    So ist das Ende. Wir kämpfen uns durch ein kaltes, dunkles Nichts, doch wenn alles vorbei ist, sehen wir ein helles Licht am Ende des Weges.
    Ich lächelte und atmete tief ein.

4. Kapitel
    (55 Minuten nach Ablauf des Ultimatums)
Alina Gregoriev
    Können Sie mir bitte sagen, was los ist?«, fragte Alina den Mann, der sich ihr weder vorgestellt hatte noch sonst irgendetwas sagte, während er ihre Brandwunde versorgte.
    »Sorry, dazu bin ich nicht befugt«, antwortete er mit einer überraschend hellen Stimme, die viel zu dünn für seinen Körper klang.
    Bislang hatte sie zwar nur die Hand des Rettungssanitäters gespürt, aber das war für einen Blinden im Allgemeinen ausreichend, um das Körpergewicht seines Gegenübers zu schätzen. Wenn sie sich einen ersten Eindruck von der Figur eines Menschen machen wollte, umschloss Alina kurz dessen Handgelenk und war im Bilde. Allerdings gab es im Augenblick nichts, was ihr gleichgültiger gewesen wäre als das Aussehen des übergewichtigen Mannes, der sie jetzt daran hindern wollte, den Rettungswagen zu verlassen. »Halt, wir sind noch nicht fertig.«
    Sie gab dem Druck seiner Hände nach, die sie wieder auf die Trage zurückpressten.
    »Scheiß auf mich, was ist mit den anderen?«
    Mit Zorbach? Mit dem Jungen?
    Wieder wusste sie nicht, ob sie wütend oder dankbar darüber sein sollte, dass ihr der Anblick erspart geblieben war, der sich Stoyas Männern geboten hatte, nachdem sie ihnen endlich im Lagerhaus Nummer 77 zu Hilfe geeilt waren. Die Bilder in ihrem Kopf, die Erinnerungen an die schrecklichen Minuten vor dem Lastenfahrstuhl, setzten sich fast ausschließlich aus Geräuschen und Gerüchen zusammen. Sie hatte gehört, wie die Fahrstuhltür wieder zugegangen war. Wie die Alubügel, die Zorbach dazwischengeklemmt hatte, mit einem lauten Knirschen erst verrutscht und dann zu Boden gefallen waren. Dann war das Licht ausgegangen, wie Lea ihr bestätigt hatte.
    Lea, das tapfere kleine Mädchen, das still in sich hineinweinte, während Zorbach von diesem Moment an in dem Schacht völlig hilflos gewesen war. Ohne Werkzeug. Ohne Licht. Gefangen in einer Höhle, die Alina sich nur über die allgegenwärtigen Gerüche vorstellen konnte: modriges Wasser, schimmlige Wände, Müll und Körperausscheidungen. Hätte sie gewusst, dass Tobias' Verlies längst geflutet war, wäre ihre Angst um die beiden ins Unermessliche gestiegen. Sie hatte Lea gebeten, den Lichtschalter wieder zu drücken, was Zorbach nun auch nichts mehr nutzte. Im Treppenhaus war es wieder hell, doch dort unten in dem Schacht, aus dem ihr Rufen schon

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