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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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mir hörte ich, wie Alina mit meinem Handy Hilfe herbeirief, während ich mühelos den Einstieg öffnete. Zu spät, das ist doch alles zu spät!, dachte ich, obwohl bis hierhin noch alles erstaunlich glattgegangen war. Zu glatt!
    Jetzt schwappte das dunkle Wasser wie Tinte aus der Luke heraus.
    »Tobias?«, rief ich unsinnigerweise. Ich streckte den Arm in das dunkle Nichts unter mir und hielt die Luft an, als die Kälte des Wassers sich wie eine Manschette um mich legte. Keinen Sinn. Das hat alles keinen Sinn mehr. Ich suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit. Nach einem anderen Ausweg.
    Doch es gab keinen. Ich hatte keine Wahl. Also hyperventilierte ich kurz und sog so viel Luft wie nur irgend möglich in meine Lungen - dann ließ ich mich, die Füße voran, in das kalte Wasser gleiten.

6. Kapitel
    Es gibt einen Punkt, an dem die Steigerung von Kälte nicht mehr in Celsius, sondern in Schmerz gemessen wird, und diesen Punkt hatte ich mit meinem Sprung in das eisige Nichts erreicht. In meiner Haut steckten Abermillionen feinster Nadeln. Und mit jedem Meter, den ich zu Boden sank, wurden sie tiefer und tiefer in meinen Körper gerammt. Für einen Moment war der Schock so groß, dass ich mich nur auf mich selbst und mein Überleben konzentrierte. Dann stieß ich mit dem Schienbein gegen eine harte Kante, bevor meine Stiefel endlich den Boden des Lastenfahrstuhls berührten. Tobias?
    Ich streckte die Arme aus und öffnete die Augen, in der Hoffnung, das Kind entweder zu spüren oder zu sehen, doch keins von beidem geschah.
    Wo treibt ein Ertrinkender hin? Nach oben? Sinkt er nach unten? Oder schwebt er wie ein Fisch in der Mitte?
    Verdammt, ich hatte auf all meine Fragen keine Antworten, und nun spürte ich, wie mir die Luft ausging.
    Und das, obwohl du erst seit wenigen Sekunden hier drin bist.
    Mein Gott, es hat doch wirklich keinen Sinn mehr, dachte ich wieder, und dann glaubte ich zu platzen. Mein Blut, die Restluft in den Lungen, alles schien von innen gegen meine Körperwände zu drücken, schien sie zerreißen zu wollen - und das war das herrlichste Gefühl aller Zeiten, denn endlich ...
    ... endlich habe ich etwas berührt.
    Ich presste etwas Luft aus meinen Lungen, sank weiter zu Boden und jubelte innerlich vor Glück, weil ich mich nicht getäuscht hatte.
    Haare, Ohren, ein Mund. Ja, ja, ja ... Das war tatsächlich ein Gesicht.
    Ich hielt seinen Kopf, zog ihn zu mir, und zum allerersten Mal seit vielen, vielen Stunden war die Hoffnung größer als meine Angst.
    Vielleicht war doch nicht alles umsonst. Vielleicht schaffen wir es ja doch noch hier .
    Raus!
    Ich wollte nur noch raus, jetzt, wo ich Tobias endlich gefunden hatte. Aber mit der Hoffnung kam auch das Gefühl der Erschöpfung zurück. Ich hatte nicht geschlafen, war beinahe gefoltert worden, hatte die schlimmsten Stunden meines Lebens durchlitten, und jetzt sorgte auch noch die niedrige Wassertemperatur dafür, dass meine letzten Kräfte schwanden. Im Augenblick konnte ich nicht spüren, ob Tobias in meinen erschlaffenden Armen noch lebte, aber ich fühlte sehr wohl, wie sich mein eigener Puls verlangsamte.
    BummBumm, Bumm ... Bumm ... Der Abstand meiner Herzschläge wurde größer. Also raus, nur noch nach oben. Zum Licht. Ich nahm Tobias in einen etwas verunglückten Schwitzkasten und stieß mich vom Boden des Fahrstuhls ab. In diesem Augenblick wurden wir verschluckt.
     

5. Kapitel
    Schwarz. Dunkel. Nichts.
    Das Licht über meinem Kopf - verdammt, war es überhaupt darüber gewesen? - war so plötzlich erloschen, dass mir Tobias vor Schreck beinahe wieder entglitten wäre. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich das Wasser in einen undurchsichtigen Ölfilm verwandelt, und ich hatte keine Ahnung mehr, in welche Richtung ich schwimmen sollte.
    Wo zum Teufel war das Licht? Wo lag die Einstiegsluke? Oben, unten, rechts, links. Diese Worte waren bedeutungslos geworden, ich hatte die Orientierung verloren. Meine Panik hatte einen Punkt erreicht, an dem eine Steigerung nicht mehr möglich war. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich auf einmal so ruhig wurde. Wie bei einem Ventil, bei dem eine kritische Grenze überschritten ist und das frei dreht, löste sich auch bei mir die Anspannung.
    Oder ist das so, wenn man ertrinkt? Hatte ich nicht einmal selbst darüber geschrieben, wie ein Ertrinkender erst unendliche Qualen leidet in der Sekunde, in der das Wasser in seine Lungen strömt, dass diese Qualen dann aber in einen rauschartigen Zustand

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