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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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eintrat.«
    Sie machte eine kleine Pause, in der sie mit den Fingern der rechten Hand nervös an ihrem linken Daumen zupfte. »Das gekrümmte Bündel auf dem Boden sah aus wie ein alter Teppich, doch es war ein weiterer Körper. Etwas kleiner und leichter als die Frau, die jetzt tot auf dem Rasen lag.«
    »Lebte er noch?«
    »Ich denke schon. Es war ein kleiner Junge. Glaube ich zumindest, denn er roch wie mein Bruder Ivan, dessen Gesicht mir leider kaum noch präsent ist. Aber seinen Duft nach Kuchen und Erde, der mir in die Nase stieg, wenn wir gemeinsam gebadet wurden, den werde ich nie vergessen. Ich rieche ihn immer, wenn ich von einem kleinen Jungen träume.«
    Oder wenn du ihn entführst. »Können Sie sein Gesicht beschreiben?«
    »Nein, Sie wissen doch: Die einzigen Gesichter, an die ich mich erinnere, sind die meiner Eltern.«
    Ich entschuldigte mich für die Unterbrechung und bat sie fortzufahren.
    »Ich brachte den Kleinen zu einem Auto, das hinter dem Zaun am Waldrand parkte. Ich glaube, es war frühmorgens, kurz nach Sonnenaufgang. Plötzlich war alles wieder dunkel, und ich dachte schon, die Vision wäre vorbei. Dann gingen zwei rote Lichter im Kofferraum des Wagens an, in den ich den Jungen legte.« »Was ist mit dem Mädchen?«
    »Welchem Mädchen?« Sie wirkte ehrlich erstaunt. »Davon weiß ich nichts.«
    »Bitte?«, fragte ich perplex. »Der Augensammler hat zum ersten Mal ein Geschwisterpaar entführt. Die Zeitungen sind voll davon.«
    »Die ich nicht lesen kann, falls es Ihnen entgangen ist.«
    »Es gibt auch noch Radio und Fernsehen.«
    »Und Internet. Danke für den Hinweis.«
    »Na, dann müssten Sie doch mitbekommen haben, dass die Polizei nach zwei Vermissten sucht. Tobias und Lea, es sind Zwillinge.«
    »Habe ich aber nicht, okay?«
    TomTom hob den Kopf, alarmiert durch die Wut in der Stimme seiner Besitzerin.
    »Ich bin gestern sofort zur Polizei, und dort hat man mich auch schon mit diesem beschissenen Tonfall ausgefragt, den Sie jetzt an den Tag legen. Ich hab sofort gewusst, die halten mich für irre, und als ich wieder zu Hause war, war ich so wütend, dass mich der Rest der Welt mal am Arsch lecken konnte. Ich habe mich mit einer Flasche Wein vor die Glotze gehauen und die Wirklichkeit mit alten Edgar-Wallace-Filmen ausgeblendet. So lange, bis ich besoffen eingeschlafen bin und heute von dem Bekloppten geweckt wurde, der sich mit mir hier draußen in der Pampa verabredet hat.« Sie schnaubte wütend durch die Nase. »Und ich dumme Kuh habe mich sogar auf den Weg gemacht, nur um mich hier zum zweiten Mal verscheißern zu lassen.« Die Öllampe flackerte und erinnerte mich daran, dass es höchste Zeit war, nach dem Generator zu sehen, wenn ich nicht bald mit meinem unheimlichen Gast im Dunkeln sitzen wollte.
    »Und das soll ich Ihnen glauben?«, fragte ich. Alina griff nach dem Bügel ihres Hundes und stand auf. »Scheiße, Sie denken doch ohnehin, dass ich lüge. Aber wenn ich mir meine Geschichte tatsächlich nur ausgedacht hätte, würde ich mich dann wirklich so armselig vorbereiten?«
    Sie hatte recht. So verschroben es auch klang, aber gerade die Tatsache, dass sie nichts von dem entführten Mädchen wusste, unterstrich ihre Glaubwürdigkeit. Niemand, der sich mit einer erfundenen Zeugenaussage wichtig machen wollte, würde einen so gravierenden Fehler begehen und das zweite Opfer übersehen.
    Es sei denn, auch das wäre Teil eines mir unverständlichen Plans.
    »Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe«, sagte sie und schulterte ihren Rucksack.
    Auch ich stand auf, etwas zu ruckartig, denn auf einmal wurde mir schwindelig. Meine Kopfschmerzen hatten jetzt einen Grad erreicht, den ich mit rezeptfreien Mitteln nicht mehr in den Griff kriegen würde. Zum Glück musste irgendwo zwischen meinem Krempel auf dem Beifahrersitz noch eine angebrochene Packung Maxalt liegen.
    »Warten Sie noch«, sagte ich und massierte mir den Nacken. Dieses Mal verzichtete Alina auf den Stock und vertraute allein ihrem Hund, der sie sanft an mir vorbeiziehen wollte. Ich machte eine zurückhaltende Geste, die sie nicht sehen konnte, also hielt ich sie am Ärmel ihres Pullovers fest.
    »Was?«, fragte sie nur und drehte den Kopf zu mir. Zum ersten Mal waren wir uns so nahe, dass ich ihr dezentes Parfum wahrnahm. Es roch leicht und nicht so herb, wie ich es erwartet hätte.
    »Wieso wollen Sie denn Ihre Zeit mit mir verschwenden, wenn Sie mir ohnehin nicht glauben?« Ich wollte ihr eine längere Antwort

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