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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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los?«, fragte sie ohne aufzusehen, und mir wurde bewusst, dass es gerade die Kleinigkeiten waren, die sehende Menschen oftmals fremdeln ließen, wenn sie mit Blinden kommunizierten.
    Das meiste sagen wir nicht mit unserem Mund, sondern mit unserem Körper. Blicke, Gesten, Bewegungen und sogar das leise Zucken der Mundwinkel können ein Kaleidoskop von Emotionen zum Ausdruck bringen, die manchmal das Gesagte unterstreichen, oftmals aber auch konterkarieren. Das betrifft vor allem die Körperhaltung. Unter normalen Umständen gilt es als unhöflich, jemandem nicht in die Augen zu sehen, wenn man mit ihm spricht, und obwohl ich wusste, dass mein Gegenüber blind war, fühlte ich mich dennoch zurückgesetzt, als Alina mir nur ihr Profil zeigte. Dann wurde mir klar, dass sie mir logischerweise das Ohr zuwandte.
    »TomTom muss bald gefüttert werden, und ich habe auch nichts im Magen. Es wäre also gut, wenn ich bald nach Hause käme.«
    »Ich habe nur noch eine Frage«, sagte ich und wusste in Wahrheit nicht, wo ich ansetzen sollte. Woher wissen Sie von dem Ultimatum? Niemand kann in die Vergangenheit sehen, also weshalb haben Sie sich diese irre Geschichte ausgedacht? Und wieso ziehen Sie mich in Ihren Wahnsinn mit hinein?
    Alina lachte leise auf und hob den Kopf. »Dafür, dass Sie mich erst wie eine Einbrecherin behandelt haben, legen Sie jetzt aber großen Wert auf meine Gesellschaft.« Ich erwiderte ihr Lachen und gab mir Mühe, unbekümmert zu klingen. »Rein journalistisches Interesse.« Sie zog die Augenbrauen hoch, und schlagartig wurde mir klar, was mich vorhin an ihren wechselnden Gesichtsausdrücken und eben gerade an ihrer Körperhaltung gestört hatte.
    Es war die Tatsache, dass sie überhaupt mit Mimik und Gestik kommunizierte. Meines Wissens waren Freude und Trauer, ja sogar das Hochreißen der Arme nach einem gewonnenen Staffellauf angeborene Verhaltensweisen. Doch wie war das mit den Abstufungen dazwischen? Mit Abscheu, Trauer, Ekel oder, wie in diesem Augenblick, dem Ausdruck nervöser Ungeduld, der Alina geradezu aus dem Gesicht sprang? Mein blinder Obstverkäufer in Kreuzkölln hatte mich einmal gebeten, ich möge ihn darauf aufmerksam machen, wenn er zu mürrisch wirke. Meist sei er nur konzentriert und keinesfalls zornig. Seit jenem Gespräch war ich davon ausgegangen, dass Mimik das Ergebnis eines Lernprozesses ist, indem man bei anderen abschaut. Doch Alina verfügte über so viele nonverbale Ausdrucksformen, dass das nicht stimmen konnte.
    Es sei denn, sie lügt nicht nur in Bezug auf den Augensammler ....
    »Können wir Ihre Fragen nicht unterwegs besprechen?«, fragte sie, und ich schüttelte den Kopf, obwohl ich den Vorschlag gerne angenommen hätte. Auch ich wollte so schnell wie möglich von hier fort. Die Wahrscheinlichkeit, dass Stoya meinen Anruf zurückverfolgt hatte, war zwar äußerst gering, denn bis vor wenigen Sekunden war ich lediglich ein Zeuge und stand noch nicht auf seiner Fahndungsliste. Doch seitdem Alina hier aufgetaucht war, fühlte ich mich nicht mehr sicher. Mein Problem war nur, dass ich noch zu wenige Informationen hatte, um zu wissen, welchen Schritt ich als Nächstes gehen sollte. »Draußen ist es im Moment zu gefährlich«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Alle paar Sekunden donnern schwere Äste zu Boden, ich würde lieber noch abwarten, bis das Wetter sich etwas beruhigt hat.«
    Sie hörte auf, ihren Hund zu streicheln. »Na schön, was wollen Sie noch wissen?«
    Woher wussten Sie wirklich von diesem Boot?
    Was haben Sie mit dem Augensammler zu schaffen?
    Sind Sie tatsächlich blind?
    »Setzen wir dort an, wo Sie aufgehört haben«, sagte ich, auch, um meine eigenen Gedanken zu ordnen.
    Bei dem Mord. An dem Punkt, an dem Sie der Frau das Genick gebrochen und die Leiche in den Garten geschleppt haben.
    »Was geschah als Nächstes?«
    »Sie meinen, nachdem ich der Frau die Stoppuhr in die Hand gedrückt hatte?«
    Mir schien, als wandere ein Schatten über ihr Gesicht. Sie hielt die Lider geschlossen, auch die Lippen waren fest zusammengepresst, was ihrem Gesicht einen angespannten Ausdruck verlieh.
    »Ich ging zu dem Geräteschuppen«, begann sie langsam, als falle es ihr schwer, eine lang zurückliegende Erinnerung aus den Untiefen ihres Gedächtnisses hervorzuwühlen. »Er war aus Holz, nicht aus Metall, das habe ich gespürt, denn ich habe mir einen Splitter eingerissen, als ich den Querriegel außen zur Seite schob. Außerdem roch es nach Harz, als ich

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