Der Augensammler
sagte ich. »Ich komme bald vorbei. Aber zuvor brauche ich eine Info von dir.« Stoya lachte entgeistert auf. »Scheiße, Mann. Scholle hat auf der letzten Besprechung vorgeschlagen, dich in die Mangel zu nehmen. Du kannst von Glück reden, dass wir uns so gut kennen und ich nicht gleich zum Staatsanwalt marschiert bin. Aber wenn du jetzt irgendwelche ScheißReporterspielchen mit mir abziehen willst, hört unsere Freundschaft auf.«
Ich fröstelte. Im Augenblick hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange ich mich mit der mysteriösen Fremden unterhalten hatte. Auf jeden Fall war die Temperatur seit meiner Ankunft merklich gefallen. Die Haut meines Gesichts spannte wie nach einem Sonnenbrand, und selbst das Atmen tat weh. »Beruhige dich bitte und sag mir nur, ob gestern eine Blinde bei dir war, die behauptet hat, sie wüsste etwas über den Augensammler.«
»Eine Blinde?«, fragte Stoya nach einer Pause, in der der Wind etwas abgeflaut war und ich ihn besser verstehen konnte. »Verdammt, seit ihr Schreiberlinge dem Augensammler einen Kultstatus verpasst habt wie Hannibal Lecter, versammeln sich doch alle Verrückten Berlins bei mir. Die erzählen mir Geschichten, dafür könntest du beim Zirkus Eintritt verlangen. Gestern Nacht erst ist ein Sozialarbeiter bei uns auf dem Revier aufgetaucht, der mir erklären wollte, dass seine tote Frau ihm die Wohnungstür aufgemacht hat.«
Der Wind wehte mir eine Schneeböe direkt ins Gesicht. »Also war Alina Gregoriev tatsächlich bei dir?«, fragte ich zögernd.
»Schon möglich.«
Ich wischte mir das Schmelzwasser der Schneeflocken von der Stirn. »Okay, dann sag mir nur noch eins ...« »Das ist jetzt schon die zweite Frage.« »Das Ultimatum.«
»Was ist damit?«, fragte Stoya ungeduldig. »Kann es sein, dass du mich angelogen hast?«
Stille. Für einen kurzen Moment hörte ich nichts als das Rauschen der windgepeitschten Äste und die saugenden Geräusche der Wellen am Bootsrumpf. Dann zischte Stoya grimmig in den Hörer: »Worauf willst du hinaus?« Mein Magen verkrampfte sich wie gestern, als ich im Polizeifunk den Eins-null-Siebener gehört hatte. Es war eine übliche Praxis der Polizei, tatrelevante Informationen zurückzuhalten oder zu verändern, um Scheingeständnisse entlarven und Trittbrettfahrer aussortieren zu können.
Aber das durfte hier nicht der Fall sein. Denn wenn die Blinde in diesem Punkt recht hatte, würde das ja bedeuten, dass...
»Sieben Minuten«, sagte ich und spürte, wie die Hand, mit der ich das Telefon hielt, zu zittern begann. »Es sind fünfundvierzig Stunden und sieben Minuten, bis die Zeit abgelaufen ist.«
Bis der Vater das Versteck finden muss. Bis die Kinder sterben.
Stoya wusste, dass er sich verraten hatte, als er in diesem Augenblick zu lange mit seiner Antwort zögerte. Deshalb machte er sich auch nicht mehr die Mühe, mich anzulügen, und fragte ganz offen: »Woher weißt du das?« Ich schloss die Augen.
Das darf nicht wahr sein. Lieber Gott, sag, dass das nicht wahr ist.
»Jetzt pass mal gut auf«, hörte ich die Stimme meines Exkollegen wie aus weiter Entfernung zu mir sprechen. »Erst erscheinst du wie aus dem Nichts am Tatort, dann liegt da auch noch deine Brieftasche, und jetzt bist du im Besitz von Informationen, die selbst meine engsten Mitarbeiter nicht kennen.«
Ich habe mir das nicht ausgedacht. Sie hat es mir gesagt. Alina, die blinde Zeugin, die in die Vergangenheit sehen kann.
Stoyas letzter Satz verstärkte mein Frösteln. »Dir ist doch wohl klar, dass du in dieser Sekunde zu unserem Hauptverdächtigen geworden bist?«
.
64. Kapitel
(Noch 10 Stunden und 44 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
Fast war ich erstaunt, dass Alina noch da war, nachdem ich das Gespräch mit Stoya abgebrochen hatte und wieder unter Deck gegangen war. Dabei wäre es für sie unmöglich gewesen, sich unbemerkt an mir vorbei von Bord zu schleichen.
Raus in die Kälte. In die sturmgeschüttelte Dunkelheit. Doch ihr Verschwinden wäre nur ein weiteres Glied in der Kette unerklärlicher Ereignisse gewesen, die mir in den letzten Stunden widerfahren waren. Woher wusste sie von den sieben zusätzlichen Minuten ? Als ich in die muffige Wärme der Wohnkabine trat, saß Alina immer noch auf der Couch und kraulte ihren Hund. TomTom genoss es sichtlich und streckte, auf der Seite liegend, alle Pfoten von sich, damit sein Frauchen besser an Brust und Bauch herankam.
»Können wir
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