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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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geschildert, was der Augensammler getan hat, bevor er den Jungen in den Kofferraum legte.« Sie nickte und schlang sich die Arme fröstelnd um den Oberkörper. Bei der Kälte brauchte die alte Heizung sicher noch fünf Minuten, bis es hier drinnen wieder warm wurde.
    »Ich habe keine Ahnung, wieso ich mich immer nur an die ersten Minuten meiner Visionen so gut erinnern kann. Danach franst der Film aus, die Bilder werden unscharf, ganze Sequenzen fehlen. Das Komische ist, dass sich manchmal die Lücken schließen und ich mich Tage später an weitere Versatzstücke erinnern kann. Aber ich weiß nicht, wieso. Das geschieht alles aus sich heraus, aber ich kann die fehlenden Bilder nicht aktiv abrufen, verstehen Sie?« Nein, tue ich nicht. Ich verstehe im Augenblick gar nichts. Ich weiß nicht, wieso Sie überhaupt hier sind. Und ich verstehe auch nicht, wie es sein kann, dass ich auf einmal der Hauptverdächtige in dem grausamsten Mordfall aller Zeiten bin.
    Anstatt ihr eine Antwort zu geben, stieg ich wieder aus und ließ meine Wut an dem Baumstamm aus, den ich mit einem Ruck zur Seite schleuderte.
    Scheiße, ich hatte mich hierher zurückziehen wollen, um etwas Abstand von dem Wahnsinn zu finden, in den ich aus einem unerklärlichen Grund hineingestolpert war. Und jetzt stecke ich noch tiefer im Schlamassel als zuvor. Ich rieb mir die dreckigen Hände an meiner Jeans ab und stieg wieder ins Auto, das jetzt nach Rauch und nassem Hund roch.
    Am liebsten hätte ich Alina an den Schultern gepackt und die Wahrheit aus ihr herausgeschüttelt: Wer hat dich geschickt? Was willst du tatsächlich von mir? Doch eine innere Stimme sagte mir, dass das der schlechteste Weg wäre, um das Gestrüpp an Fragen in meinem Kopf zu entwirren.
    Und außerdem muss irgendetwas an der Story dran sein. Immerhin hat Stoya das Ultimatum bestätigt. Ich schluckte eine Maxalt aus der Packung, die ich mir vom Beifahrersitz genommen hatte, bevor Alina eingestiegen war. Dann setzte ich auf den Nikolskoer Weg zurück. Mein Versteck war ohnehin aufgeflogen, also machte ich mir dieses Mal nicht die Mühe, meine Spuren zu verwischen. »Noch mal von vorn«, sagte ich, als wir die Straße erreicht hatten. »Ihre Visionen sind wie ein Film. Und der ist in dem Moment abgerissen, als Sie den Jungen in das Auto verschleppten.« »Nein.« »Nein?«
    Ich drehte mich zu ihr. Alina hatte ihre Lider wieder geschlossen und wirkte vollkommen ruhig, als schlafe sie. »Nicht ganz. Ich kann mich zum Beispiel noch sehr gut daran erinnern, wie ich in das Auto eingestiegen bin und das Radio ansprang, als ich den Motor startete.« Sie biss sich auf die Unterlippe, dann sprach sie weiter. »The Cure sangen Boys don't cry, und ich überprüfte im Rückspiegel, ob ich eine Schramme oder einen Kratzer abbekommen hatte, doch alles, was ich sah, war das lachende Gesicht meines Vaters, der zum Takt der Melodie auf das Lenkrad trommelte.«
    Sie schluckte. »Scheiße, wie ich das hasse, immer meinen Vater zu sehen, wenn irgendein Arschloch jemandem weh tut.«
    Eine Zeitlang war nichts außer dem Tuckern des Diesels zu hören, während wir die menschenleere Allee Richtung Zehlendorf fuhren. Bestimmt hatte es eine Unwetterwarnung gegeben, die die Berliner ausnahmsweise einmal ernst nahmen.
    »Wie ist es weitergegangen?«, fragte ich, als wir an einer roten Ampel stehenbleiben mussten.
    »Keine Ahnung. Jetzt beginnen die löchrigen Stellen im Film. Ich weiß noch, dass wir eine Weile bergauf gefahren sind, es gab mehrere Kurven, doch dann stoppte der Wagen wieder, und ich stieg aus.« »Was haben Sie dann getan?«
    »Gar nichts. Ich stand einfach nur da und habe zugesehen.«
    »Zugesehen?« Ich fuhr wieder an.
    »Ja. Auf einmal lag etwas Schweres in meinen Händen, ich vermute, ein Fernglas oder etwas Ähnliches. Auf jeden Fall verschwamm erst alles vor meinen Augen, und dann konnte ich plötzlich erkennen, was sich einige hundert Meter unter uns abspielte.«
    »Was haben Sie gesehen?« Ich konnte kaum glauben, dass ich einer Blinden ernsthaft diese Frage stellte. Sie drehte sich kurz zu TomTom, der zu hecheln begonnen hatte, und berührte kurz beruhigend seinen wuscheligen Hinterkopf. »Ich sah ein Auto. Es raste die Straße herunter und kam schleudernd in der Auffahrt zum Stillstand. Ein Mann sprang raus, er stolperte und kroch für einen Moment auf allen vieren den verschneiten Kiesweg hoch. Dann verschwand er kurz hinter einem Baum und tauchte direkt vor dem Geräteschuppen wieder

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