Der Augensammler
nenne. Nach außen hin völlig normal, eher unscheinbar; nach innen jedoch komplett unberechenbar.«
Stoya machte sich eine sinnlose Notiz auf dem Block vor ihm. »Könnte er ein Journalist sein?« Hohlfort zuckte mit den Achseln. »Serienmörder gehen den unterschiedlichsten Berufen nach, arbeiten in einer Tankstelle, als Busfahrer oder Anwalt, stapeln Dosen im Supermarkt oder sind Beamte.«
Der Professor warf Stoyas Partner einen spöttischen Blick zu.
»Vielleicht arbeiten sie sogar bei der Polizei.«
Scholle stöhnte auf und drehte sich zu seinem Kollegen.
»Komm, Philipp, wir verplempern hier nur unsere Zeit. Die Weisheiten von dem Onkel sind ungefähr so konkret wie mein Horoskop.«
Wenn die despektierlichen Worte den Professor geärgert hatten, dann ließ er es sich nicht anmerken. Er stützte beide Ellbogen auf die Armlehnen seines Rollstuhls und zeigte den Polizisten mit unbekümmerter Miene seine Handflächen.
»Ich bin nicht hier, um Ihre Arbeit zu erledigen, meine Herren. Sie sind die Ermittler, nicht ich.« Er bedachte Stoya mit einem Blick, der ihm auch ohne Worte sagte, dass selbst der beste Profiler nichts ausrichten könne, wenn es den Beamten noch nicht einmal gelang, das Versteck zu finden, in dem der Augensammler die verschleppten Kinder gefangen hielt und ermordete.
»Und ich habe auch keinen Computer bei mir, den Sie mit Informationen füttern können, damit er per Knopfdruck das passende Täterprofil ausspuckt«, fügte Hohlfort hinzu. »Ich kann Ihnen lediglich ein weiteres Puzzlesteinchen l iefern. Es ist Ihre Aufgabe, es an die passende Stelle zu setzen.«
Stoya warf Scholle einen strengen Blick zu, dann bat er den Professor, mit seinen Äußerungen fortzufahren, worum dieser sich nicht lange bitten ließ. Wenn ihm etwas gefiel, dann, andere an seinem unerschöpflichen Wissen teilhaben zu lassen. Vorausgesetzt, sie stellten es nicht in Frage. »Um auf Ihre Frage nach dem Beruf des Täters zurückzukommen . « Hohlfort fixierte einen unsichtbaren Punkt an der schmucklosen Decke des Raumes und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Alles, was ich sagen kann, ist: Der Augensammler plant gerne und hat vermutlich beruflich mit Projekten mit festen Abgabeterminen zu tun. Er ist daran gewöhnt, Dinge zu einem festgelegten Zeitpunkt zum Abschluss zu bringen.«
Stoya musste an die Kaffeetasse auf Zorbachs Schreibtisch in der Redaktion denken, auf der stand: Kreative haben keine Arbeitszeiten, nur Deadlines.
»Und der Täter verfügt zumindest über rudimentäre medizinische Kenntnisse.«
Stoya nickte widerstrebend. Die Augen waren nicht professionell, aber auch nicht stümperhaft entfernt worden, und der Täter hatte die Betäubungsmittel so dosiert, dass sie bis zum Ablauf des Ultimatums wirkten. Zumindest deutete das Fehlen äußerer Gewaltmerkmale darauf hin, dass die Kinder bewusstlos gewesen waren, als sie ertränkt wurden. Stoya versuchte hin und wieder, Trost in diesem Gedanken zu finden, was ihm jedoch nie gelang. »Auf jeden Fall hat er die Planungs- und Annäherungsphase schon lange hinter sich gelassen«, dozierte Hohlfort weiter. »Sonst wäre der Ablauf nicht so gleichmäßig, so routiniert. Wir können davon ausgehen, dass der Täter schon vor Jahren auffällig geworden ist.« Zum Beispiel, als er eine Frau auf einer Brücke erschoss? »Ich hab da eine Frage zu dem Auslöser«, fragte Stoya in einige der wenigen Lücken, die der Professor beim Reden ließ. »Könnte der Augensammler mit seinen Taten ein Trauma verarbeiten?«
Hohlfort nickte heftig. »Ich würde sogar wetten, dass der Täter eine psychologische Krankenakte hat. Leider hat er uns bislang keine verwertbaren DNA-Spuren oder Fingerabdrücke hinterlassen. Somit ist uns damit nicht geholfen, und wir müssen den klassischen Weg der Tätereingrenzung gehen. Und der beginnt mit der entscheidenden Frage nach seinem Motiv!«
Der Professor lächelte zum ersten Mal sein Fernsehgrinsen und hob beide Hände, als wolle er sich ergeben. »Ab hier verlasse ich den wissenschaftlich festen Boden und begebe mich auf das schwammige Feld der Spekulation.« Für Scholle schien damit der Schlusspfiff ertönt zu sein, und er machte Anstalten, den massigen Körper vom Stuhl zu wuchten. Doch Stoya bedeutete seinem Partner, sich noch ein wenig zu gedulden. Auch er wollte hier raus, nicht zuletzt, weil das Zeug, das er erst vor zehn Stunden geschnupft hatte, langsam seine Wirkung verlor und er dringend einen neuen Kick brauchte. Doch
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