Der Augensammler
das musste warten.
Ich muss erst sicher sein, dass wir wirklich in die richtige Richtung jagen.
Im Gegensatz zu Scholle, für den der Schuldige bereits feststand, sprengte der Gedanke Stoyas Vorstellungskraft, ein ehemaliger Kollege könnte für die widerlichste Mordserie seiner Laufbahn verantwortlich sein. Doch nachdem Zorbach plötzlich am Tatort aufgetaucht war, dort seine Brieftasche gefunden wurde, obwohl all seine Taschen von einem Ganzkörperoverall bedeckt gewesen waren, und er noch dazu über konkretes Täterwissen verfügte, war er im Augenblick ihr heißester Kandidat. Dass er einerseits von dem konkreten Ultimatum wusste, andererseits aber keine Angaben zum Modus Operandi - dem Ertränken - gegeben hatte, wertete Scholle nur als »die Taktik eines Psychopathen, die ein gesundes Hirn ohnehin nie verstehen wird«.
Stoya war das zu billig, dennoch unterstützte er natürlich die Suche nach Zorbach, die bereits auf Hochtouren lief. Im Moment wurde seine Wohnung durchsucht, und der Volvo war zur Fahndung ausgeschrieben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihn finden würde. Zeit, die Stoya jetzt dafür nutzen musste, sich auf das Verhör mit ihm vorzubereiten.
»Spekulieren Sie bitte«, bat er deshalb den Professor und sah auf seine Armbanduhr. Nicht einmal mehr zehn Stunden.
»Was genau will der Augensammler mit seinen Morden erreichen?«
60. Kapitel
(Noch 9 Stunden und 41 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
Nichts an der verschlafenen Siedlung am Rande des Grunewalds deutete darauf hin, dass hier erst vor wenigen Stunden ein brutales Verbrechen verübt worden war. Es schien, als habe der Neuschnee nicht nur die Dächer, Straßen und Vorgärten, sondern auch die Erinnerung an die grauenhafte Tat verdeckt. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich dies für den sichersten Ort der Welt gehalten. Eine Gegend, in der Eltern ihren Kinder Namen geben, die auch in einem Ikea-Katalog nicht weiter auffallen würden: Tombte, Sören, Noemi, Lars-Alvin, Finn. Kinder, deren Fernsehzeiten streng limitiert sind und die nicht vom Fußballplatz, sondern von der Klavierstunde zurückerwartet werden, während die Erwachsenen am Gartenzaun über den besten Rasendünger diskutieren und welcher Nachbar seinen Hund schon wieder in den Wirtschaftsweg kacken hat lassen, ohne die Schweinerei wegzumachen, obwohl der Gemeindevorstand überall diese blauen Boxen mit Wegwerfbeuteln angebracht hat. Eine Gegend, in der der größte Skandal der letzten Jahre war, als der alte Becker im Zikadenweg mit einer zwanzig Jahre jüngeren Asiatin zum Straßenfest erschien. Und jetzt das! Ich fuhr im Schritttempo und sah in die erleuchteten Fenster. In einigen stand bereits die erste Weihnachtsdekoration: handbemalte Nussknacker, eine Holzkrippe, einfarbige Lichterketten. Nichts Buntes und Grelles wie in den ärmeren Bezirken, keine blinkenden Weihnachtsmänner auf den Dächern, keine Halogenrentiere vor der Garage. Im Westend feierte man zurückhaltend. Und langweilig, wenn man mich fragte. »Wir treffen uns am Kühlen Weg«, sagte ich in mein Handy. »Du meinst am Tatort?« Frank klang nicht gerade begeistert, wieder meinen Laufburschen spielen zu müssen. »Genau dort.« »Und was ist es diesmal?« »Dein Auto.«
»O bitte, sag mir, dass das jetzt nicht dein Ernst ist.« Frank lachte künstlich. »Du bist auf der Flucht, richtig?« »Nein. Ich bin nur vorsichtig.«
»Erzähl mir nichts, ich bin doch nicht blöd. Ich weiß, warum Thea und der Rest der Chefetage gerade im Konferenzraum zusammenhocken. Die Polizei ist dir auf den Fersen, und jetzt wissen sie nicht, ob sie die Story unter den Tisch kehren oder auf Seite eins bringen sollen.« Zorbach unter Mordverdacht. Wie nah kam unser Starreporter dem Augensammler wirklich? Ich sah die Schlagzeilen schon vor mir und ahnte, dass Thea die Flucht nach vorne plante, während die Geschäftsführung den Imageschaden und die Kosten eines Zivilprozesses gegenrechnete, sollte ich die Zeitung später wegen Rufschädigung verklagen.
Falls es mir gelang, meine Unschuld zu beweisen. »Nicht ohne Grund musste ich Big Mama Thea schwören, mich sofort zu melden, wenn du anrufst«, sagte Frank. »Tu das nicht.«
»Keine Sorge. Ich spiel in deinem Team, also werde ich nichts sagen. Aber ich werde dir auch nicht mein Auto geben, nur weil dir deins zu heiß geworden ist.«
Seine Bemerkung erinnerte mich daran, dass ich Idiot vergessen hatte, die Nummernschilder
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