Der Augensammler
auf. Ich sah, wie seine Lippen sich zum Schrei verzerrten, als er den Kopf in den Nacken riss und weinend zusammenbrach, exakt an der Stelle, wo ich die Leiche seiner Frau abgelegt hatte.« Sie schloss die Augen, allerdings nicht schnell genug, um eine Träne zurückhalten zu können. Vor uns fuhr ein kleiner Geländewagen, in dem Schein seiner roten Bremslichter ähnelte die Träne einem dicken Blutstropfen, der ihr die Wange herunterlief.
»Großer Gott, er schlug sich die ganze Zeit mit beiden Fäusten gegen den Kopf. Immer und immer wieder. Ich konnte nicht hören, was er brüllte, weil er viel zu weit entfernt war. Doch dann ...« »Was?«
»Dann nahm er auf einmal Kontakt zu mir auf.« »Wie das?«
Wir näherten uns dem Autobahnkreuz Drei Linden, und ich beschloss, weiter geradeaus Richtung Steglitz zu fahren.
»Der Mann stand auf und sah in meine Richtung.« »Moment.« Ich griff mir in den Nacken. »Er hat gewusst, wo Sie sind?«
»Ja, ich hatte das unwirkliche Gefühl, als wären wir Komplizen. Immerhin war ich sehr weit von ihm entfernt, und als ich vor Schreck das Fernglas absetzte, konnte ich ihn dort unten nicht einmal mehr als kleinen Punkt erkennen.« »Aber er hat Sie gesehen?« »So kam es mir vor.«
Der dumpfe Druck hinter meiner Schläfe wurde schlimmer. Das Migränemittel zeigte noch nicht die geringste Wirkung.
Konnte es etwa sein, dass es eine Verbindung zwischen dem Augensammler und Traunstein, dem Vater der entführten Kinder, gab?
Wir passierten die Avus-Auffahrt Richtung Charlottenburg. Hinter mir im Rückspiegel war alles frei, also trat ich auf die Bremse und raste, so schnell es mein Volvo erlaubte, die Potsdamer Chaussee zurück.
»Was haben Sie vor?«, fragte Alina, die die plötzliche Richtungsänderung natürlich bemerkt hatte. »Wir machen einen kurzen Umweg«, sagte ich, setzte den Blinker nach rechts und bog zur Stadtautobahn ab. Vielleicht spielt der Augensammler ja nicht alleine sein perverses Versteckspiel.
Es gab nur eine Möglichkeit für mich, das herauszufinden.
61. Kapitel
(Noch 10 Stunden bis zum Ablauf des Ultimatums)
Philipp Stoya (Leiter der Mordkommission)
Laut Hollywood sind Serienmörder überdurchschnittlich intelligent, niemals afroamerikanischer Abstammung und nur in ganz seltenen Ausnahmefällen weiblich.«
Professor Adrian Hohlfort saß in seinem verchromten Rollstuhl und sah ganz anders aus, als man ihn aus dem Fernsehen kannte. Er lächelte nicht, das graue Haar war nicht ordentlich gescheitelt, und auch die schwarze Krawatte fehlte, die er bislang in jeder Talkrunde getragen hatte. Er hatte sich noch nicht einmal rasiert, vermutlich, weil es in seinem Publikum heute Abend niemanden gab, der nach der Show sein Buch kaufen sollte: »Der Serienmörder und ich« stand seit einundsiebzig Wochen auf der Bestsellerliste.
»Sie töten nur innerhalb ihrer ethnischen Gruppe und seien vor allem ein amerikanisches Phänomen. Alles Erkenntnisse, die angeblich auf wissenschaftlicher FBI-Forschung beruhen. Und alles gequirlte Scheiße.« Stoya warf Scholle einen mahnenden Blick zu, der links neben ihm am Besprechungstisch saß und vergeblich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Anders als sein Partner, der Profiling für Hokuspokus hielt, vertraute Stoya auf die Fähigkeiten des Sechzigjährigen, der in seiner wissenschaftlichen Laufbahn zahlreiche Serientäter persönlich befragt hatte.
Weitaus mehr noch als Zorbach.
Privat mochte ihm der querschnittsgelähmte Psychologe zutiefst unsympathisch sein. Beruflich stand sein Können außer Frage. Auch wenn ihre vorausgegangenen Treffen in den letzten Wochen noch nicht sehr ergiebig gewesen waren, so hatte er ihnen früher oft hilfreich zur Seite gestanden. Und jetzt hatten sie endlich einen konkreten Verdacht und wollten die Meinung des Experten dazu hören. »Professor Hohlfort, das letzte Mal sagten Sie, wir sollten nach einem Durchschnittstypen suchen, der eher zurückhaltend ist und nicht in der Öffentlichkeit steht.« »So ist es. Vergessen Sie Hannibal Lecter. Der ist die Erfindung eines Schriftstellers und hat mit der Wirklichkeit ungefähr so viel gemein wie ich mit einem Hürdenläufer.« Hohlfort gab den Felgen seines Rollstuhls einen leichten Klaps und grinste als Einziger über seinen Scherz. »Serienmörder sind die Verlierer unserer Gesellschaft. Wir suchen nicht nach dem überragenden Antihelden, sondern nach jemandem, der mit sich und seinem Schicksal hadert. Ein Nischenmensch, wie ich ihn
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