Der Augensammler
versuchte, Klarheit zu bekommen, desto unschärfer wurde das Bild vor meinen Augen. Die merkwürdigen Sinnestäuschungen, deretwegen ich mich zu Dr. Roth in Behandlung begeben hatte, taten ihr Übriges. Auch wenn mein Arzt der Meinung war, sie hätten keinen psy-chopathologischen Hintergrund, sorgten sie immerhin dafür, dass ich unkonzentriert war und nicht mehr an die simpelsten Recherchewerkzeuge dachte, die mir zur Verfügung standen.
Wie zum Beispiel Google Earth.
»Schon die freie Version ist der Hammer«, schwärmte Frank derweil. »Mit der Satellitenkarte kannst du einen verlorenen Haustürschlüssel auf dem Rasen deines Gartens wiederfinden, wenn du nur nah genug auf das Grundstück zoomst.«
Er lachte über seine Übertreibung. »Aber es geht noch besser. Denn wir in der Redaktion haben ja ...« »... Street View. Exakt.«
Seit geraumer Zeit fuhren mit Spezialkameras ausgerüstete Fahrzeuge von Google durch die Straßen ausgewählter Städte der Welt, um dem Nutzer per Knopfdruck eine 3-D-Ansicht aller Straßenzüge bieten zu können. Noch waren längst nicht alle Orte erfasst, und ganze Heerscharen von Juristen schlugen sich mit den datenschutzrechtlichen Problemen herum, die dieses Projekt provozierte, aber auf dem iPhone war es teilweise schon installiert, und meine Zeitung verfügte bereits über einen ausgedehnten Testzugang, den Frank genutzt hatte, um nach einem Haus zu suchen, das zu Alinas Beschreibung passte.
»Jede Berliner Straße, jeder verdammte Winkel«, sagte er euphorisiert, und ich hörte wieder Tastaturgeräusche. »Ich kann sie mir ansehen, als ob ich selbst hindurchfahre.« »Trotzdem muss das Stunden dauern.« »Nicht, wenn man Glück hat, so wie wir. Das in Frage kommende Gebiet besteht hauptsächlich aus Mehrfamilienhäusern oder spießigen Reihenhaussiedlungen. Die Traunstein-Villa ist hier eine der wenigen Ausnahmen!« »Wie viele noch?«, fragte ich aufgeregt. »Wie viele frei stehende Einfamilienhäuser hast du gezählt?« Ich sah auf den Tacho und bemerkte, dass ich vor Aufregung die erlaubte Geschwindigkeit um mehr als dreißig Stundenkilometer überschritt.
»Siebenundzwanzig. Aber nur neun davon sind einstöckig und verfügen über eine Einfahrt, wie deine neue Freundin sie beschrieben hat.«
Er blieb mit der Stimme oben wie jemand, der am Ende einer langen Geschichte noch eine letzte Pointe draufsetzen will.
»... und nur in zwei dieser Einfahrten hängt ein verdammter Basketballkorb!«
41. Kapitel
Obwohl der Bungalow vermutlich das niedrigste Haus in der gesamten Siedlung war, konnte man ihn schon von weitem erkennen.
Die Straße, in der wir uns befanden, war eine kopfsteingepflasterte Sackgasse, die tatsächlich so abseits gelegen war, dass an einer Laterne sogar noch ein Wahlplakat hing. Irgendein Wahlhelfer hatte vergessen, den dümmlich grinsenden Schlipsträger mit Doktortitel vom Mast zu nehmen, und daher wurde seit September jeder, der hier einbog, mit den nichtssagenden Worten »Unsere Zukunft ist Stärke« begrüßt.
Ich fragte mich, ob es ein Gesetz gab, das selbst die unbekanntesten und hässlichsten Politiker dazu zwang, ihr Foto auf Pappe ziehen zu lassen. Und ob es auf unserem Planeten auch nur einen einzigen Menschen gab, der jemals durch ein Wahlplakat zur Stimmabgabe motiviert worden war. Vielleicht sollte ich in meiner Zeitung mal einen Suchaufruf starten, wenn das alles hier vorbei war. Wenn ich dazu dann noch in der Lage war. Wir hatten unser Auto an der Ecke abgestellt, um nicht direkt vor der Adresse zu parken, die Frank mir durchgegeben hatte. Mit jedem Schritt, den wir uns dem Bungalow näherten, wuchs in mir die Gewissheit, dass wir hier unsere Zeit verschwendeten.
»Ich glaube nicht, dass du dieses Haus beschrieben hast«, sagte ich zu Alina, die gerade darauf wartete, dass TomTom einen Straßenbaum markieren konnte.
»Wieso?«
»Zu auffällig!« Ich kniff die Augen zusammen und beobachtete, wie mein Atem direkt vor meinem Gesicht verdampfte.
Wobei eine auffällige Vorgehensweise oftmals die beste Tarnung sein kann. Erst vor kurzem war in Lichtenrade am helllichten Tag eine gesamte Doppelhaushälfte ausgeräumt worden. Die Diebe waren einfach mit dem Umzugswagen vorgefahren. Niemand denkt an einen Raubüberfall, wenn er einen Möbelpacker mit einem Plasmafernseher unter dem Arm sieht.
Und niemand denkt an ein herausgeschnittenes Auge, wenn er vor dem Weihnachtsmann steht.
Alina befahl TomTom, neben ihr »Sitz« zu machen, und trat
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