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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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fröstelnd von einem Bein auf das andere. »Beschreib mir, was du siehst«, bat sie. Beschreiben? Ich ließ den Blick schweifen. Wie sollte man das hier einer Blinden erklären? Auf jeden Fall musste ich mein Vorurteil, im Westend würde Weihnachten zurückhaltender gefeiert, kräftig korrigieren. Das einstöckige Gebäude sah aus, als gehöre es einem zehnjährigen Wohlstandswaisen, der sein Erbe in einem Spezialgeschäft für Weihnachtsdekoration verballert hat: Eine halogenblaue Lichterkette zog sich kranzförmig an der Dachkante entlang und umrahmte auch die abwärtsführenden Regenrinnen, an denen sich ein lebensgroßer Weihnachtsmann mit einem Schlitten auf dem Rücken Richtung Schornstein hangeln wollte. Immerhin trug Santa weiße Klamotten, also das Original-Outfit aus der Zeit, bevor ein Werbegenie von Coca-Cola auf die Idee gekommen war, den Weihnachtsmann rot anzumalen. Das war allerdings das einzig Dezente der Dekoration. Der gesamte Vorgarten war mit Rentierfiguren, illuminierten Schneemännern und den drei Heiligen aus dem Morgenland zugestellt. Nur Jesus und seine Krippe fehlten, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sie nicht unter dem Stapel Kaminholz neben der Doppelgarage begraben lagen, deren Tore ebenso wie die Fensterläden und die Gartenpforte mit Kunstschnee angesprüht waren. Und dann war da noch .
    ... der Basketballkorb!
    Er befand sich sogar an der Stelle, die Alina beschrieben hatte: seitlich von der Garage und nicht davor. »Lass es mich vorsichtig formulieren«, sagte ich. »Wer immer hier wohnt, ist sicher ein Premiumkunde bei seinem Stromanbieter.«
    Alina schien ihre wenigen visuellen Erinnerungen besser gespeichert zu haben als sehende Kinder. Vielleicht war das der Fall, weil bei ihr ab dem dritten Lebensjahr keine neuen Eindrücke mehr hinzugekommen waren, die die alten Bilder überschrieben hätten. Jedenfalls konnte sie sich noch gut an die Weihnachtszeit in Kalifornien erinnern, und so fiel es mir nicht schwer, ihr einen ungefähren Eindruck von dem Lichterspektakel zu geben, das sich mir bot und das bei längerem Hinsehen Migräneattacken provozierte. Nicht ohne Grund hatten sämtliche Nachbarn es dem Besitzer des Bungalows gleichgetan und in den Untergeschossen die Jalousien vorgezogen.
    »Du hast den Korb und die Cola erwähnt, aber von Rentieren und Weihnachtsmännern hast du nichts gesagt!« Alina zuckte mit den Achseln. »An so was kann ich mich auch nicht erinnern!«
    Ich ging einen Schritt auf den Korb zu, dessen grüner Ring das Lichtspektakel der vorweihnachtlichen Beleuchtung reflektierte. Er sah merkwürdig unbenutzt aus, als wäre er gestern erst montiert worden.
    »Und was nun?«, hörte ich Alina hinter mir fragen. Feine Schneeflocken fielen auf ihre Echthaarperücke und blieben glitzernd darauf liegen.
    Ich bat sie, in der Einfahrt zu warten, und versuchte, das Tor zu dem kleinen Weg zu öffnen, der zwischen Garage und Haus in den Garten zum Haupteingang führte. Wie erwartet, war die Pforte verschlossen. Normalerweise hätte ich geklingelt, aber hier am Vordereingang fehlten sowohl Namensschild wie Klingel, also langte ich zwischen die weißen Gitterstäbe und drehte den innen gelegenen Türknauf, bis die Pforte aufsprang. Ich drehte mich zu Alina um und versicherte ihr, dass ich gleich wieder zurück wäre; dann machte ich mich auf den kurzen Weg hinter das Haus. Der Haupteingang war massiv, eine Tür mit einem starken Holzblatt, das allem Anschein nach von innen mit einer noch stärkeren Stahlschiene gesichert war. Wie in dieser Gegend üblich, ragte eine Überwachungskamera von einem Mauervorsprung schräg nach unten, wie ein Greifvogel, der sich auf seine Beute stürzen will, sobald man es wagte, den Fußabtreter zu berühren. Etwa in Brusthöhe war auf der Tür eine längliche Anzeigetafel angebracht. Sie sah exakt so aus, wie man es aus Schaufenstern von Lottoannahmestellen oder billigen Spielautomatenkasinos kennt. Nur dass die roten, elektronischen Buchstaben, die von rechts nach links über die LED-Leiste liefen, keinen Jackpot bewarben, sondern sich vor meinen angestrengten Augen zu einem bekannten Weihnachtslied zusammensetzten.
    Oh, jingle bells, jingle bells Jingle all the way
    Ich näherte mich der blinkenden Tür und suchte vergeblich nach einer Klingel. Auch an der Rückseite des Bungalows waren alle Außenjalousien heruntergelassen.
    Oh, what fun it is to ride In a one horse open sleigh
    Ich war sehr dicht herangetreten und hatte den Fehler

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