Der Augensammler
Ich weiß nur, dass der kranke Scheißkerl die Stromversorgung mit der Beatmungsmaschine gekoppelt haben muss. Ich glaube, wenn ich sie abstelle, geht das Licht an und die Tür entriegelt sich.«
Auch Zorbach keuchte, als wolle er es TomTom gleichtun und zu hecheln beginnen.
»Aber ich kann das nicht. Ich hab es bei meiner Mutter schon nicht geschafft!«
Alina nickte. Sie verstand zwar nicht, was er ihr damit sagen wollte, aber jetzt war nicht die Zeit, um ihn zu seiner Familiengeschichte zu befragen.
»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, fragte sie und tastete wieder vorsichtig nach dem Arm der Frau. »Keine Ahnung. Fünf Minuten. Vielleicht weniger.« Ihre Finger streiften über einen Knorpel, über ein Stück abgestorbener Haut. Wanderten vorsichtig nach oben. »Ich meine, vermutlich erlösen wir sie von ihren Leiden. Vielleicht würde sie uns darum bitten, wenn sie noch sprechen könnte!«
Alina hörte, dass Zorbach weinte, und auch ihr standen die Tränen in den Augen.
Vermutlich. Vielleicht. Ganz sicher, wenn das, was sie hier spürte, auch nur halb so schlimm war, wie ihr Tastsinn es ihr vermittelte.
Aber vielleicht und vermutlich und wenn reichten nicht aus, um einen unschuldigen Menschen zu opfern, damit man selbst überlebte. Sie konnte Zorbach nicht einschätzen. Doch sie wusste, dass sie selbst niemals die Kraft aufbringen würde, bei einem lebendigen Menschen die Geräte abzustellen.
Zumindest nicht, solange ihnen noch etwas Luft zum Atmen blieb. Etwas Luft.
Fünf Minuten. Vielleicht weniger.
31. Kapitel
Spezialeinsatzkommando
Vierzehn Minuten und dreiundvierzig Sekunden nach Franks Kapitulation hatte das siebenköpfige Einsatzkommando die Zentrale verlassen und war auf dem Weg zu der Adresse, die der Zeuge Frank Lahmann dem Ermittler genannt hatte.
Das Briefing dauerte weitere fünf Minuten und erfolgte während der Fahrt im Mannschaftswagen durch den SEK-Leiter.
Als die Männer elf Minuten und dreizehn Sekunden später in voller Montur mit Schutzweste, Titanhelm und Schusswaffen vor dem Bungalow Position bezogen, waren drei Einsatzfahrzeuge der Polizei und zwei Notarztwagen bereits vor Ort.
Während die beiden Notärzte noch darüber diskutierten, weshalb sie doppelt angefordert worden waren, wurde den angrenzenden Nachbarn untersagt, ihre Häuser zu verlassen.
Zu dieser Zeit trafen die beiden Ermittler der »Soko Augensammler«, Philipp Stoya und Mike Scholokowsky, am Einsatzort ein.
Die Wärmebildkamera, deren Scan den Aufenthaltsort der Zielpersonen in diesem Haus enttarnen sollte, ließen sie im Koffer. Die Weihnachtsbeleuchtung machte ihre Bilder unbrauchbar. Der Einsatzleiter überlegte fünfzig Sekunden, ob er den Strom abstellen sollte, entschied sich dann aber dagegen, um den oder die Täter im Inneren des Hauses nicht zu warnen, dass der Zugriff unmittelbar bevorstand.
Da Gefahr im Verzug war, sah der Plan vor, ohne Vorwarnung die Haustür aufzubrechen und die nachfolgenden Räume des einstöckigen Gebäudes zu sichern. Diese Gewaltanwendung war jedoch nicht notwendig, da der Hintereingang offenstand.
Nach weniger als vierzehn Sekunden wusste man, dass niemand im Erdgeschoss war. Also galt es, die verschlossene Kellertür aufzubrechen.
Um 01.07 Uhr zerstörte die Eingreiftruppe das Schloss der massiven Brandschutztür, und zwei Männer stürmten hinter einem Schutzschild die Kellertreppe hinab. Zu diesem Zeitpunkt waren zweiunddreißig Minuten vergangen, seitdem Frank Lahmann den Aufenthaltsort des Verdächtigen verraten hatte.
All diese Zeitangaben gingen aus dem exakt geführten Einsatzprotokoll hervor, das der Einsatzleiter anfertigte, bevor er sich vom Amtsarzt für eine Woche krankschreiben ließ. Nicht notiert in dem Protokoll waren die unerträglichen Sekunden, in denen die Beamten wie gelähmt vor dem Schreckensbild verharrten, das sich ihnen in dem Keller bot. Die Sekunden, in denen einige der härtesten Männer Berlins traumatisiert wurden, weil sie solch eine »entsetzliche Scheiße« (O-Ton des ersten Funkspruchs auf die Frage, was da unten los sei) noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatten.
Am Ende waren die Notärzte dankbar, nicht auf sich allein gestellt zu sein. Keiner von beiden schämte sich seiner Tränen, als sie erkannten, dass hier unten jede medizinische Hilfe zu spät kam.
Blinder als blind ist der Ängstliche, Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse, Freundlich empfängt er's, Wehrlos, ach, müde der Angst, Hoffend das Beste ... Bis
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