Der Augensammler
Echo aufgefallen. Ihre Worte bekamen einen leichten Hall, wenn sie von den Wänden zurückprallten. Daher wusste sie, dass der Raum, in dem sie eingesperrt waren, nicht groß sein konnte. Außerdem hatte sie sich beim Herabsteigen den Kopf gestoßen. Sie stand also in einem niedrigen, felsigen Keller, in dem vor kurzem das Licht ausgegangen war. Der dünne Schleier, den sie dank ihres visuellen Restempfindens vorhin noch wahrgenommen hatte, war verschwunden - ebenso wie der Sauerstoff, den sie zum Atmen brauchten.
Seit Zorbach telefoniert hatte, schien die Luft hier unten stetig dünner zu werden, und ein immer größer werdender Druck legte sich auf die Lungen.
»Hier liegt eine kranke Frau«, hörte sie ihn stöhnen. Er sprach atemlos, klang völlig verwirrt. »Ich muss sie umbringen, wenn wir wieder rauswollen.« Sie atmete seit dem Betreten des Bungalows nur noch durch den Mund, um den unerträglichen Gestank besser zu ertragen. Im Augenblick war der süßlich ranzige Duft schimmliger Lebensmittel allerdings ihr geringstes Problem. Sie war eingeschlossen in einer Umgebung, die sie nicht kannte, hörte grauenhafte Geräusche, hatte Atemprobleme, und Zorbach schien den Verstand verloren zu haben. »Halt, nein, komm nicht näher!«, herrschte er sie an, als sie auf ihn prallte. Normalerweise verfügte sie auch auf unbekanntem Terrain über so etwas wie einen Orientierungssinn. Er war nicht sehr ausgeprägt und nicht immer vorhanden, aber hin und wieder spürte sie, wenn ihr etwas im Weg stand, zum Beispiel, weil sich der Luftwiderstand veränderte, kurz bevor sie gegen einen schweren Gegenstand rempelte. Doch hier unten, in dieser kalten, brüllenden Umgebung, war das unmöglich. Zu viele Ablenkungen. Meine Sinne sind überfordert. Sie hörte das unangenehme Zischen, die saugenden Pumpgeräusche, roch den Gestank und vernahm die Panik in Zorbachs Stimme. Kein Wunder, dass sie gegen ihn geprallt war und sich mit einer plumpen Bewegung hatte abstützen müssen - und zwar auf einer ... Ja, worauf eigentlich ?
Die Folie unter ihren Händen hatte sich angefühlt, als hätte sie ein abgepacktes Stück Fleisch betastet. »Was ist das hier?«, fragte sie, doch bevor sie mit beiden Händen weiter über die warme Folie tasten konnte, wurden ihr die Arme von Zorbach zurückgerissen. »Nicht. Fass sie nicht an.« Sie?
»Von wem sprichst du?«
Er wurde wütend. »Ich hab dir doch gesagt, hier liegt eine Frau. Eines seiner Opfer. Glaub mir, mehr willst du nicht wissen.«
Nein, ich glaube, da hast du recht. Womöglich will ich das wirklich nicht wissen ...
Aber sie erfuhr es trotzdem. Nicht von ihm, er hielt weiter schweigend ihre Arme zurück, wollte sie vermutlich vor den Bildern beschützen, die er die ganze Zeit schon hatte ertragen müssen.
Sie erfuhr die Wahrheit, als sie ihren Standpunkt veränderte und Zorbach ihre Hände nicht mehr festhalten konnte. Ihre Finger ertasteten das Bild der Qualen besser, als Worte es ihr hätten beschreiben können. Vor ihr, unter der dünnen Folie, lag eine offene, heiße Wunde. Sie konnte die bloßen Muskeln ertasten, das Fleisch, die Sehnen und teilweise sogar den blanken Knochen.
Nekrotisierende Fasziitis, schoss ihr ein grauenhafter Verdacht durch den Kopf.
Sie kannte diese seltene bakterielle Erkrankung, bei der die Menschen buchstäblich bei lebendigem Leib verwesen. Wer immer hier lag, musste unendliche Qualen erleiden, vergleichbar mit einem vernachlässigten Pflegepatienten, dessen gesamter Körper wundgelegen war. Sie hatte einmal einen Geschäftsmann in Behandlung gehabt, der diese schlimme Krankheit überstanden hatte und durch Physiotherapie wieder an normale Bewegungsabläufe gewöhnt werden musste. »Ich bin förmlich aufgeplatzt«, hatte der Patient ihr geschildert, der in einem Krankenhaus mit dem Erreger infiziert worden war. »Erst schwoll alles an, wurde heiß, die Haut riss auf und begann zu verfaulen, während ich von Fieberkrämpfen geschüttelt wurde!« Zahlreiche Operationen und eine Wagenladung verschiedenster Antibiotika retteten ihm das Leben. Maßnahmen, die für die hier verendende Frau ganz sicher zu spät kamen, selbst wenn sie nicht an dieser Krankheit litt. Womöglich wurde sie gar nicht infiziert. Womöglich verfault sie nur deshalb, weil sie sich unter der Folie nicht bewegen kann.
»Wer ist sie?«, fragte Alina und musste husten. Die Luft hier unten war schon stark von ihrem eigenen Kohlendioxid gesättigt.
»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.
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