Der Bastard und die Lady
wusste offenbar immer sehr genau, was sie tat, oder glaubte es wenigstens in dem Moment zu wissen, da sie handelte. Er war sich nie ganz sicher, was wann zutraf.
„Edith sagt, im Musikzimmer hängt ein Porträt der verstorbenen Marchioness. Ich möchte es mir ansehen.“
„Und warum hat sie Ihnen das erzählt?“
„Man möchte meinen, das läge auf der Hand. Weil ich sie gefragt habe, ob es irgendwo ein Porträt gibt.“ Chelsea blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich habe Edith eine ganze Reihe Fragen gestellt. Wir haben, um genau zu sein, fast bis Mitternacht geredet. Ich weiß jetzt alles über Sie. Es stört Sie doch nicht?“
„Und wenn es so wäre?“, fragte er. Sie setzte sich wieder in Bewegung, bog nach links in den nächsten Flur ab, dann nach rechts ins Musikzimmer. Er hatte Jagdhunde mit weniger ausgeprägtem Orientierungssinn gehabt.
Er hatte das Musikzimmer den ganzen Morgen gemieden, wollte zwar das Porträt aufsuchen, in der Hoffnung, Abigails Anwesenheit im Haus zu spüren, wusste aber doch, dass es seinen Schmerz nur vertiefen würde. Die Blumen trösteten, wie auch der Umstand, dass diese absurden Kübelpalmen, die Abigail selbst dekoriert hatte, aus dem Wintergarten geholt und wie eine Art Ehrenwache in der Eingangshalle aufgestellt worden waren. Doch Abigail war nicht mehr, und er würde sie nie mehr lächeln sehen, nie mehr ihr unschuldiges Lachen hören, nie mehr die Welt mit ihren Augen sehen und staunen können. Denn sie war einzigartig, besonders und unersetzlich.
„Meine Güte“, sagte Chelsea neben ihm, blieb an der Tür stehen und betrachtete das große Porträt, das über dem massiven Kamin aus weißem Marmor hing. „Du meine Güte. Sie sieht aus wie ein Engel.“
Beau lächelte. „Das könnte an den Flügeln liegen, auf die sie bestanden hat, wenngleich sie sie als Elfenflügel bezeichnete“, erklärte er milde. „Ich weiß noch, wann dieses Gemälde entstanden ist. Mein Vater musste dem Künstler das Doppelte des vereinbarten Honorars bezahlen, weil Abigail immer nur ein paar Minuten lang Modell sitzen wollte, bevor sie beschloss, lieber etwas anderes zu tun. Puck hat sie mit Leckereien bestochen, damit sie still saß, bis er bis fünfhundert gezählt hatte. Doch das klappte nur selten. Besonders weil Puck erst etwa sieben Jahre alt war und bei ungefähr vierhundertzehn nicht mehr weiter wusste. Das hatte ich vergessen.“
Chelsea lehnte ihren Kopf an seinen Oberarm und schob die Hand um seine Taille. „Welch eine ätherisch schöne Frau. Zierlich, vielleicht sogar zerbrechlich. Und doch mit dem glücklichen, offenherzigen Gemüt eines Kindes. Ihre Mutter hat recht, Oliver. Abigail irgendwo einzusperren wäre eine Katastrophe für sie gewesen. Dennoch … hätte sie nicht Ihren Vater heiraten und Abigail hierher zu sich nehmen können?“
Beau legte Chelsea den Arm um die Schultern und streichelte geistesabwesend ihren Oberarm, als sie zusammen da standen und den Blick nicht von Abigails Abbild lösen konnten. Es wirkte beinahe lebendig, so als würde Abigail jeden Moment aus dem Rahmen schweben.
„Sie vergessen den Ehrgeiz meiner Mutter“, sagte er, und sein Magen verkrampfte sich. Denn manche Dinge konnten ihn doch noch berühren, verletzen, obwohl er sich einzureden versuchte, dass sie nicht wichtig waren. „Ich bin in Irland geboren, müssen Sie wissen, weil sie in jenem Sommer dort auftrat. Mein Vater wusste nicht einmal, dass sie schwanger mit mir war. Sie hat es ihm nicht gesagt, weil er sie sonst zum Bleiben gezwungen, zur Heirat gezwungen hätte. Als sie zurückkam, war er bereits mit Abigail verheiratet.“
„Und Sie und Ihre nach Ihnen geborenen Brüder wurden zu Bastarden erklärt. Sie hätten der Erbe Ihres Vaters sein können. Dieser Besitz, das Haus in Mayfair und alles andere. Sie hätten selbst Madelyn haben können, wenngleich ich an Ihrer Stelle nach wie vor sagen würde, Sie sind noch einmal davongekommen. Das alles aber hat Ihre Mutter Ihnen vorenthalten. Können Sie ihr je verzeihen?“
„Was gibt es da zu verzeihen?“ Beau senkte den Blick auf Chelseas ihm zugewandtes Gesicht und sah zu seiner Überraschung seinen eigenen Schmerz in ihren Augen gespiegelt, vielleicht auch ein wenig Zorn. Doch kein Mitleid, was großartig und ein Glücksfall für sie beide war. Er wollte kein Mitleid. „Mein Leben ist, wie es ist. Was ich nicht ändern kann, ignoriere ich. Ich hätte auch in einer armseligen Hütte aufwachsen können, ohne je
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