Der Bastard und die Lady
zu wissen, woher ich das nächste Stück Brot bekommen sollte. Stattdessen bin ich hier groß geworden, auf dem Besitz meines Vaters. Habe eine bessere Erziehung genossen, als mein Stand vorsieht, würden manche sagen, bin gekleidet, ernährt und mit allen möglichen Vorteilen ausgestattet worden.“
„Ja, allerdings hatten Sie stets alles vor Augen, was Sie nicht haben konnten, was Sie aber haben sollten. Ich würde wahnsinnig dabei, das weiß ich. Aber ich bin vermutlich auch selbstsüchtig.“
Sie ließ ihren Arm sinken und wollte von Beau abrücken. Doch Beau wollte sie dort haben, wo sie war, und er ließ seine Hand hinunter an ihre Taille gleiten und drehte Chelsea zu sich um.
„Sie wissen doch, Chelsea, dass Sie alles, was Sie besitzen, was Ihnen von Geburts wegen zusteht, aufgeben, wegwerfen, indem Sie einen Bastard heiraten. Die Gesellschaft hat mich nie wirklich anerkannt. Aber Sie. Man wird Ihren Schlag ins kollektive Gesicht dieser Gesellschaft schlimmer bewerten als die Umstände meiner Geburt. Sie fragen, ob ich meiner Mutter verziehen habe. Fragen Sie sich auch, ob unsere Kinder uns beiden verzeihen werden?“
„Kinder?“ Sie sprach das Wort aus, als hätte er es in einer Sprache geäußert, die sie nicht verstand – oder nicht verstehen wollte. „Ich … ich hatte noch gar nicht so weit gedacht. Ich meine, daran, was sie empfinden würden. Weder Fisch noch Fleisch, so würde man sie einordnen, oder?“
Er tippte mit dem Zeigefinger an ihre Nasenspitze. „Weiter haben Sie noch nicht gedacht, wie? Vielleicht schickt die Schicksalsgöttin Ihnen dadurch, dass wir hier einen Halt einlegen müssen, eine weitere Gelegenheit, Ihren Plan zu überdenken. Wir könnten uns irgendeinen Schwindel ausdenken, in der Richtung, dass Sie aufs Land zu einer Begräbnisfeier gerufen wurden. Was beinahe zutrifft, wenn wir ein Auge zudrücken. Ihr Bruder täte gut daran, solch eine Geschichte zu bestätigen.“
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Dass dieser Blick ihn nicht tötete, war pure Glückssache. „Seit unserer ersten Begegnung, Oliver, versuchen Sie, mich loszuwerden. Wenn Sie mich nicht gerade ansehen, als wollten Sie mich vielleicht küssen. Liegt das daran, dass ich Sie an Madelyn erinnere?“
„Bitte tragen Sie mir diesen Fehler aus alten Zeiten nicht nach“, sagte er gepresst. „Und Sie sehen ihr überhaupt nicht ähnlich.“
„Oh, aber doch. Sie ist blond, ich bin blond. Wir beide haben das Kinn der Breans. Und unsere Augen sind …“
„Überhaupt nicht ähnlich“, fiel Beau ihr ziemlich heftig ins Wort, wie er selbst merkte. „Ja, sie hat schöne Augen. Aber sie sind kalt und leblos.“
Chelsea blickte unter den Wimpern hervor zu ihm auf, plötzlich schüchtern. Ihm war noch nicht aufgefallen, dass sie schüchtern blicken konnte. „Und meine?“
Jetzt saß er in der Klemme, er wusste es. Sagte Dinge, die er nicht sagen dürfte. Dachte Dinge, die er nicht denken durfte. „Ihre Augen … Solche Augen wie Ihre habe ich noch nie gesehen. Eben sind sie noch grau, im nächsten Moment sind sie blau oder sogar ein bisschen grün. Sie sind … sie sind wie durchsichtige, blitzende Edelsteine. Faszinierend. Und sie verraten immer, was Sie fühlen.“
„Ach“, sagte sie leise und senkte den Kopf, um ihre derlei gerühmten Augen vor ihm zu verbergen. „Das wusste ich nicht. Danke, dass Sie so nett waren, das zu sagen. Ich war nicht auf Komplimente aus, wissen Sie? Das wäre oberflächlich und dumm. Aber es ist schön zu wissen, dass … na ja, dass es Ihnen aufgefallen ist. Dass Sie mich nicht nur als Madelyns Schwester sehen oder als Ihre Rache an Thomas. Was nicht heißt, dass Sie kein Recht hätten, sich an uns allen rächen zu wollen, so wie Sie sich vermutlich an der ganzen Welt …“
Er hob ihr Kinn an, küsste sie auf den Mund und stellte damit ihr nervöses Geplapper ab. Später würde er es bereuen, dessen war er sicher, doch im Augenblick erschien sein Tun ihm nicht nur angebracht, sondern erwartet.
Was er nicht erwartet hatte, war seine Reaktion auf ihren unerfahrenen Mund. Sein Leben lang war er der Unschuld aus dem Weg gegangen, vielleicht, weil er nicht glaubte, sie verdient zu haben, vielleicht auch, weil Unschuld ihn nicht interessierte. Er hatte nie nach dem Warum gefragt.
Manche andere Frau wäre zurückgewichen. Manche andere Frau hätte sich an ihn geschmiegt, wieder eine andere wäre noch weiter gegangen und hätte ihren weichen Körper provokant an ihm,
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