Der Beethoven-Fluch
Zimmers.
Meer staunte nicht schlecht. “Wie haben Sie das denn geschafft?”
“Ich habe ihr gesagt, wer ich bin und ihr meinen Dienstausweis der Wiener Philharmoniker unter die Nase gehalten”, flüsterte Sebastian, der nun das Instrument eingehend inspizierte.
Über seine Schulter spähte Meer hinüber zu der Schülergruppe. Die Kinder betrachteten gerade gebannt Beethovens Totenmaske, die Meer sich selber ja auch vor erst drei Tagen angeschaut hatte. Als die Studentin erklärte, was die Kinder da vor sich hatten und wie die Maske angefertigt worden war, wurde es mucksmäuschenstill. Es war ja auch ein beklemmendes Ausstellungsstück – nicht so sehr wegen des Aussehens, sondern aufgrund der Tatsache, dass es nur Stunden nach des Meisters Ableben geformt worden war. Nicht einmal eine Fotografie hätte so realistisch wirken können wie dieses aus Bronze gegossene Mausoleum seiner Seele. Der Anblick ging Meer zu Herzen; ein Gefühl der Trauer durchbohrte sie wie ein Stich.
“Seht mal hier!” Sebastians Stimme war leise, aber eindringlich. Meer und Malachai scharten sich dicht um ihn und senkten den Blick.
An der Unterseite der Oboe befand sich eine Anzahl von silbernen Herstellerstempeln. Meer kannte sich einigermaßen mit so etwas aus, hatte sie doch an Wochenenden und im Sommer im Antiquitätenladen ihrer Mutter mitgearbeitet. Da sie so oft mit Silbergegenständen hatte umgehen müssen, waren ihr etliche der populärsten noch im Gedächtnis. So eine Anordnung aber wie hier auf der Oboe war ihr neu. Und dann fiel ihr noch etwas auf, das sie noch nie an einem Fertigungszeichen gesehen hatte: ein kleines Loch, stecknadelkopfgroß, geschickt verborgen inmitten der Gravierungen. Automatisch fuhr sie mit der Hand zu ihrer Halskette.
“Ja, wir müssen es ausprobieren”, drängte Sebastian, der offenbar denselben Gedanken hatte.
“Jetzt? Hier?”
“Ja!”, bekräftigte Malachai.
Meer schaute erst hinüber zu den Schulkindern, die gerade mit der Ticketverkäuferin ins nächste Zimmer wechselten, danach zu dem am Empfangstresen sitzenden Studenten, der fleißig auf seinem Computer tippte.
“Los!”, mahnte Malachai. “Schnell!”
Mit zitternden Fingern nestelte Meer die Kette unter dem Hemd hervor, beugte sich vornüber und steckte den winzigen Silberschlüssel in das Loch an der Oboe. Seit dem Augenblick, an dem sie den Schlüssel unter dem mumifizierten Herzen gefunden hatte, fragte sie sich schon, ob es wohl überhaupt ein so kleines Schloss geben konnte. Jetzt hatte sie ihre Antwort.
Der Schließmechanismus funktionierte völlig geräuschlos und wie geölt. Meer ließ Schlüssel und Kette wieder unter ihrer Bluse verschwinden und versuchte, die Oboe zu öffnen. Wie lange mochte es her sein, seit die Scharniere das letzte Mal ihren Dienst hatten verrichten müssen? Vorsichtig drehte sie die beiden Hälften auseinander und zwang das Instrument so, seinen Schatz preiszugeben. Ein schmales Silbergrab tat sich auf, und was sich darin verbarg, das kannte Meer aus einem Winkel tief, tief in ihrer Seele. Es wirkte so anfällig und spröde, dass sie sich gar nicht traute, es anzufassen. Überaus behutsam hob sie es aus seinem Versteck.
“Schnell!”, raunte Sebastian. “Her damit!”
Sie war verwirrt. Welches Instrument meinte er denn? Ehe sie die Frage beantworten konnte, riss er ihr Beethovens silberne Oboe aus der Hand und klappte das Geheimfach mit einem Ruck wieder zu.
“Los, rasch in die Handtasche damit!”, zischte Malachai ihr zu und wies mit dem Kopf auf die Knochenflöte.
Sebastian hatte sich derweil einige Schritte entfernt und das silberne Instrument an die Lippen gesetzt. Doch keine Beethoven-Komposition erfüllte den Raum, sondern die Klänge aus Johann Pachelbels berühmten
Kanon in D-Dur
. Meer erschien das passend. Beethoven hätte vermutlich auch diese Musik gehört. Pachelbel war ebenfalls ein deutscher Komponist, der nach Wien gegangen war, allerdings gute hundert Jahre zuvor. Die Kinder, die Lehrerin, die Ticketverkäuferin und deren junger Kollege am Eingang – sie alle richteten ihr Augenmerk auf Sebastian und die lyrischen, getragenen Töne, die er der Oboe entlockte.
Mit immer noch bebenden Händen öffnete Meer ihre Handtasche und ließ die Knochenflöte darin verschwinden.
Sebastian beendete den Kanon, verneigte sich angesichts des frenetischen Beifalls und reichte das Instrument mit schwungvoller Bewegung an die junge Dame zurück, die es ohne weitere Nachfrage in die
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