Der Beethoven-Fluch
es doch nur darum, ein Buch zu finden und herauszufinden, ob es weitere Informationen beinhaltet!” Meer spürte, dass ihr Vater nicht überzeugt war. “Malachai kann ja mitkommen”, schob sie zögernd nach. Hatte sie ihren Vater etwa falsch verstanden? Vielleicht ging es ihm doch um ihn selbst? “Es sei denn, du möchtest, dass ich noch bei dir bleibe.”
“Aber nur zu deiner eigenen Sicherheit. Um meinetwillen brauchst du das nicht.”
“Ich habe das Gefühl, dass ich mich ein bisschen um dich kümmern muss, Dad”, erwiderte Meer.
Ihr Vater schmunzelte. “Es gibt auf jede Frage eine Antwort, auch wenn uns anscheinend keine einfallen will. Die Kabbala lehrt uns, dass es in uns eine seelische Ebene gibt, auf der wir mit dem umfassenden Wissen der Welt in Verbindung stehen. Carl Gustav Jung sah das genauso, er nannte es nur anders: das
Kollektive Unterbewusste
. Es manifestiert sich in einer inneren Stimme, die wir alle vernehmen, wenn wir nur tief genug in uns hineinhorchen. Du hörst diese Stimme, hast sie immer gehört. Nun musst du dich auf sie verlassen. Versprich mir nur eins”, bat er lächelnd. “Dass du gut auf dich aufpasst!”
Als sie das am Graben liegende Antiquariat betraten, schlug ihnen der Geruch von Leder und Tinte, Leim und Öl entgegen. Eine Frau mittleren Alters mit dickem schwarzem Haar saß gerade an einem Zeichentisch und schaute auf. Um sie herum verteilte sich ein Sammelsurium aus Töpfchen, Rasierklingen, Papier, weichen Tüchern und Büchern in unterschiedlichsten Reparaturstadien. Auf Sebastians Frage hin griff sie in ein Regal und zog den Band mit Gerhard von Breunings Erinnerungen an Beethoven heraus.
Während er das Buch durchblätterte, fielen Meer die Ringe unter seinen Augen auf. Es tat ihr leid, dass er so in ihre Lebenskrise hineingezogen wurde, obwohl er doch genug mit seiner eigenen zu tun hatte.
Nach wenigen Minuten klappte er den Band zu und reichte ihn dankend an die Antiquarin zurück.
“Na, was stand drin?”, fragte Malachai über den Verkehrslärm hinweg, als die drei wieder auf der Straße waren.
“Nach dem Tod von Stephan von Breuning fiel dessen Erbe an seinen Sohn Gerhard. In der Hinterlassenschaft befanden sich auch etliche Gegenstände aus Beethovens Besitz.”
“Hat er die im Einzelnen aufgeführt?”
“Zahlreiche Bücher, einige Metronome – damals eine neuartige Erfindung, bei der Beethoven mitgewirkt hatte –, ein Dutzend Taktstöcke sowie etliche Musikinstrumente, darunter ein Klavier, zwei Geigen, eine Oboe und zwei Flöten.”
“Sind sie im Detail beschrieben?”
“Nein.”
“Wir müssen rausbekommen, was mit der Hinterlassenschaft von Gerhard von Breuning passiert ist”, stellte Malachai fest.
Mit einem Mal war Meer, als spüre sie die Gegenwart ihres Vaters fast so deutlich, als würde er neben ihnen stehen. Ganz gleich, wo sie in den vergangenen zwei Tagen auch gewesen sein mochte: Überall hatte sie sich vorgestellt, Jeremy sei an ihrer Seite. Eigentlich hätte sie ihm das vorhin im Krankenhaus sagen sollen, er hätte es bestimmt gern erfahren. Sie nahm sich vor, ihm später davon zu erzählen, wie es ihr in den beiden Beethoven-Gedenkstätten in Wien und in Baden gefallen hatte – und wie stark sie seine Präsenz spürte.
Beim Gedanken an den Besuch in der Mölker Bastei vom vergangenen Sonntag beschlich sie das deutliche Gefühl, dass sie dort etwas gesehen hatte, an das sie sich jetzt eigentlich unbedingt erinnern müsste. Was war es bloß? Es lag doch erst drei Tage zurück!
Während Malachai und Sebastian sich weiter unterhielten, konzentrierte sich Meer auf Ciceros Erinnerungsspiel: Sie versetzte sich in Beethovens Wohnung, durchquerte das Foyer … stieß auf den Flügel … ging durch das gesamte Zimmer … studierte genau die bei jedem Ausstellungsstück angebrachten Hinweise – und plötzlich fiel ihr ein, was sie gesehen hatte! Was da auf einer der Hinweistafeln unter den Exponaten stand und wieso das gerade jetzt so wichtig war.
“Ich weiß, was mit der Hinterlassenschaft passiert ist”, rief sie unvermutet aus, “und wo sich die Instrumente befinden.”
62. KAPITEL
M ittwoch, 30. April – 11:30 Uhr
Stumm die nur zu vertrauten Stufen durchzählend, stieg Meer die Treppe zu Beethovens Wohnung in der Mölker Bastei hinauf. Gefolgt von Malachai und Sebastian, steuerte sie zielbewusst und ohne zu zögern auf einen Geigenkasten zu. Sie erinnerte sich, dass er mit einer Karte versehen war, auf der in vier
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