Der Beethoven-Fluch
wollte nur noch schlafen. Und doch unternahm sie noch einen letzten Versuch. Sie umfasste den Schlüssel mit beiden Händen. Diesmal hörte sie ein Schnappen und gleich darauf ein Kratzen der Scharniere. Ein Teil der Wand öffnete sich wie eine Tür.
Ein Luftschwall, dumpf zwar, jedoch nicht gasverseucht, schlug ihr entgegen. Sie atmete tief ein und spähte in die Finsternis, in die nun das trübe Licht der Kellerzelle sickerte. Meer erkannte die Umrisse einer nach oben strebenden Wendeltreppe. Wohin die führen mochte, tat jetzt nichts zur Sache. Meer atmete tief durch, spürte, wie sie von neuer Energie durchströmt wurde. Sie ging zu ihrem Vater, packte ihn unter den Armen und zerrte den Regungslosen näher an die Öffnung heran. “Atme!”, flüsterte sie, dann immer lauter werdend, bis sie regelrecht schrie. “Los, atme!”
Seine Augen blieben zu; er reagierte nicht.
Meer holte tief Luft und begann mit Mund-zu-Mund-Beatmung.
Nichts.
Noch ein Versuch.
Immer noch nichts.
Noch einmal. Diesmal tat ihr Vater einen Atemzug – flach zwar und matt, aber es war ein Anfang. Während sie verfolgte, wie er Luft holte und wieder ausatmete, überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte. Ihn in den Geheimgang schleppen, wo er genügend unverseuchte Luft bekam? Lange genug, dass sie selber zum Ausgang eilen und Hilfe holen konnte?
Was tun? Losrennen? Bei ihm bleiben? Setzte das Gas ihm wegen seines Gesundheitszustands mehr zu als ihr? Hatte er sich beim Sturz an der Ziegelwand gestoßen und verletzt? Gar bei der Aufregung einen erneuten Herzinfarkt erlitten?
Vielleicht brauchte sie ihn gar nicht allein zu lassen! Vielleicht musste sie nur laut genug brüllen, dann würde sie schon jemand hören!
“Hallo?”, schrie sie.
Und zurück kam: “Hallo?”
83. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 16:16 Uhr
Gott sei Dank!
, durchfuhr es Meer. Offenbar hatte jemand sie gehört. Jemand, der gewiss Hilfe mitbringen würde. Doch dann ertönte dasselbe Wort noch einmal:
Hallo?
Und gleich darauf ein weiteres Mal, aber leiser.
Hallo?
Da wurde ihr klar, dass es nur ein unbarmherziges Echo war.
“Dad?”, wisperte sie, ohne jedoch auf eine Reaktion zu warten. “Ich muss Hilfe holen! Ich lasse dich nur einen kurzen Moment allein … es geht nicht anders. Ich verspreche dir, ich bin so schnell wie möglich zurück …”
Anfangs war es ihr nicht bewusst, doch sie benutzte dieselben Worte, die ihr Vater damals, vor fünfundzwanzig Jahren, bei ihrem Unfall im Central Park geflüstert hatte. Als sie nach dem Zusammenprall mit dem Radfahrer, bei dem sie durch die Luft geschleudert wurde, zu sich kam, da war ihr Vater bei ihr gewesen. Dicht über sie gebeugt, hatte er auf sie eingeredet: Sie solle sich nicht bewegen, er werde Hilfe holen. Meer wusste noch, wie seine warmen Tränen seinerzeit auf ihre Wangen tropften. “Ich muss Hilfe holen!”, hatte er geflüstert. “Ich lasse dich nur einen kurzen Moment allein … es geht nicht anders. Ich verspreche dir, ich bin so schnell wie möglich zurück … Schätzchen … Versprochen!”
“Ich muss Hilfe holen!”, betonte sie erneut. Er hielt die Augen zwar weiter geschlossen, nickte jedoch und hob etwas die Mundwinkel, wie um zu lächeln. Als er dann seufzend ausatmete, da war es Meer, als verspüre sie ein allumfassendes Vibrieren, das sie beruhigte und ihr Mut machte.
Sie trat in das kühle, nach Feuchte, Schimmel und Fäulnis riechende Loch und begann den Aufstieg. Im kümmerlichen, durch Deckenritzen sickernden Licht rutschte sie mehrmals auf den glitschigen Steinstufen aus; Spinnweben schlugen ihr ins Gesicht. Auf der obersten Stufe angelangt, fand sie sich in einem Kämmerchen wieder, das allerdings keinen erkennbaren Ausgang präsentierte.
Das Gitter in der Decke war eine grausame Verlockung – es war viel zu hoch, nicht nur für sie. Der so dringend gesuchte Ausgang konnte es unmöglich sein. Nur schien es so, als gäbe es sonst keinen Weg hinaus. Aber aus welchem Grund hätten die Memoristen den Geheimgang einrichten sollen, wenn er nirgendwohin führte?
Meer musterte die Ziegelwände aufmerksam, ruinierte sie sich die Fingernägel, indem sie jahrhundertealten Schmutz wegkratzte und in den Fugen bohrte. Sie war auf der Suche nach einer Art Schlüsselloch wie jenem unten in der vergitterten Schatzkammer. Erst, als sie die dritte Wand in Angriff nahm, wurden ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt: Unter der Dreckschicht stieß sie auf grobe Einkerbungen – Kreise mit
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