Der Beethoven-Fluch
auch gleich bei seinen Kollegen nach”, befahl Paxton. “Ich will wissen, wann die ihn zuletzt gesehen haben. Verdammt noch mal, der Kerl hat einfach zu viele Terrorzellen infiltriert! Wegen seiner Reportagen haben sie seine ganze Familie hochgejagt! Wo steckt eigentlich Ahmed Abdul?”
“Genau deswegen glaube ich nicht, dass wir betroffen sind”, ließ sich nun Vine vernehmen, der bislang dem Dialog wortlos zugehört hatte. “Dem Hörensagen nach ist Yalom nach wie vor ein Ziel für Terroristen. Es kann sein, dass sie ihm nach Wien gefolgt sind und ihn in eine Falle locken wollen.”
“Seine Familie auszulöschen reicht wohl nicht als Rache, was?”, fragte Kerri.
“Und wieso ausgerechnet jetzt?”, wollte Paxton wissen.
“Er hat sich bewusst rar gemacht”, berichtete Vine. “Jetzt lässt er sich zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit wieder blicken.”
“Man könnte fast meinen, er will sich absichtlich als Ziel anbieten.” In Kerris Stimme lag ein solches Mitgefühl, dass Paxton sie fragend anguckte.
“Gehen wir mal davon aus, dass die Sache uns doch betrifft”, fuhr er dann an seine Mitarbeiter gewandt fort. “Dass nahezu tagtäglich Sprengstoff zwischen den Ländern des ehemaligen Ostblocks hin und her wandert, ist nichts Neues. Der letzte Kauf aber, der landet in dieser Stadt, ausgerechnet diese Woche, und wo taucht er auf? In der Nähe ebendieses Reporters, der jetzt verschollen ist. Solche Zufälle mag ich ganz und gar nicht. Wir wissen doch, so ein Journalist wie Yalom, der wäre eine erstklassige Geisel. Wenn es einen von der eigenen Zunft erwischt, spielen die Medien verrückt. Verdammt, Vine, wenn Yalom tatsächlich verschwunden ist …” Paxton kniff die Lippen zusammen. “Haben Interpol oder die Nachrichtendienste in letzter Zeit irgendwelche Gespräche in dieser Richtung abgefangen?”
“Dann wüssten Sie das doch zuallererst!”, knurrte Vine.
“Doppelt hält besser. Dreifach erst recht.”
Die Arbeit wurde mit erhöhtem Tempo wieder aufgenommen, die Stimmung war angespannt. Paxton starrte auf einen Monitor mit dem Bild der leeren Bühne, als könnte er dort die fehlenden Antworten finden. Es lag in seiner Macht, das Konzert abzusagen, doch bevor er einen derart drastischen Schritt unternahm, musste er hundertprozentige Gewissheit haben. Bewegungen von Sprengstoffen waren tatsächlich an der Tagesordnung. Und dass Yalom von der Tagung berichtete, musste nicht bedeuten, dass er sich nur deswegen in Wien aufhielt.
Paxton schaute hinüber zu Kerri. Die spürte wohl seinen Blick und sah ihren Chef gespannt an – den Bleistift gezückt, das Telefon in der Hand, bereit, jeden Auftrag unverzüglich auszuführen. Paxton wies auf den Monitor. Zum ersten Mal überhaupt interessierte er sich wirklich für die eigentliche Veranstaltung, mit deren Schutz er sein Geld verdiente. “Sie als Musikliebhaberin haben doch die Proben gehört. Wie gut wird das denn wohl, das Konzert?”
“Wir sind in Wien”, lächelte sie. “Und heute Abend spielen hier die Wiener Philharmoniker Werke von einem ihrer am innigsten geliebten Komponisten. So was erlebt man nur ein Mal im Leben.”
85. KAPITEL
G esellschaft für Erinnerungsforschung
Donnerstag, 1. Mai – 17:47 Uhr
Während die Rettungssanitäter ihren Vater versorgten, drückte sich Meer an die Wand des engen Kellers, die scharfkantigen Ziegel schmerzhaft im Rücken. Wieso brauchten sie nur so lange? Warum sagten sie nicht endlich, dass er außer Gefahr war? Dass sie gerade noch rechtzeitig gekommen waren? Dass er zwar einen Herzanfall erlitten hatte, aber dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging?
Zwei weitere Minuten verstrichen, ehe einer der Sanitäter aufstand und müde auf sie zukam – zu langsam, so als bereite es ihm große Mühe. Gleichzeitig sah Meer, wie auch die anderen sich erhoben. Wieso stellten die ihre Behandlung ein?
Drei Schritte, und schon war sie bei ihrem Vater, ergriff seine Hand, wartete darauf, dass seine Finger sich um die ihren schlossen. “Daddy?”
Meer schaute auf ihn herunter, konnte jedoch sein Gesicht nicht erkennen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass Tränen die gesamte Umwelt verschwimmen ließen.
Der Notarzt sagte etwas auf Deutsch.
Meer verstand kein Wort.
“Sein Herz …”, wiederholte er auf Englisch. “… zu schwach …”
Eine Sanitäterin legte ihr behutsam eine Decke über die Schultern. “Sie haben einen Schock, da müssen Sie sich warm halten”, mahnte sie.
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