Der Beethoven-Fluch
den Drähten. Er wusste, er durfte nicht mehr an die Vergangenheit denken, aber noch immer roch er den Blütenduft des heiligen Baumes, spürte die tödlichen Hiebe, sah, wie der Alte wieder und wieder mit dem Stein auf ihn einschlug, fühlte Devadas’ Todeskampf.
Er wollte nach dem Kabel greifen, doch seine Finger versagten ihm den Dienst. Blind vor Schmerzen wand er sich am Boden, doch dann erlebte er irgendwie durch die Qualen hindurch jene Beglückung, die auch Devadas verspürte, als er im Todeskampf noch begriff, dass er einem geliebten Menschen das Leben gerettet hatte.
David erinnerte sich, wie Liesel einmal zu ihm gesagt hatte, seine Artikel und Reportagen seien möglicherweise lebensrettend. Wäre sie jetzt hier – sie würde ihm vorhalten, dass es niemals seine Bestimmung gewesen sei, Gewalt anzuwenden.
Andererseits konnte er jetzt nicht mehr zurück. Er musste es tun, für sie, für seine Söhne. Diesmal nahm er das Kabel in die Hand, doch dann wollte ihm nicht so recht einfallen, was als Nächstes zu tun war. Zwei Schritte. Nur zwei Schritte noch!
Abermals ließ der Alte den Stein niedersausen.
Nein! Nur zwei Schritte noch: Den Kurzschluss verursachen und die Explosion auslösen! Den Blick starr auf seinen Sprengsatz gerichtet, spürte David, wie ihn eine ungeheure Wehmut überkam – so bleischwer, dass er glaubte, überhaupt nie wieder hochzukommen. Vielleicht, so überlegte er, solltest du einfach hier unten bleiben, mit den Steinen verwachsen, Teil der uralten Totenstadt werden.
Los, mach schon!
, schrie er sich stumm an.
Tu es! Jetzt! Bring es hinter dich!
Die Drähte zwischen den Fingern fühlten sich an wie Liesels Haar.
Was hatte er sich da bloß die ganze Zeit eingebildet? Lachhaft! Zu einem Mord war er doch gar nicht fähig! Nicht mal die Ratten hier unten hätte er umbringen können. Doch jetzt noch kneifen? Dann würde er den Verlust seiner Familie sein Lebtag nicht überwinden. Wenn er so ohne seine Lieben weiterleben musste bis ans Ende seiner Tage, dann würde das schmerzhafter und quälender sein als je in den vergangenen achtzehn Monaten.
Zum letzten Mal krachte der Stein auf Devadas’ Kopf nieder.
Seine Finger erschlafften; kraftlos sackten die Hände zu Boden. Vor den Augen wurde ihm pechschwarz. Unabhängig davon, wie viele Menschen er geliebt und verloren haben mochte – konnte er anderen tatsächlich das antun, was man ihm angetan hatte? Sollte er derjenige sein, der das brüchige Band zerstörte, welches die Menschen über und durch die Zeiten miteinander verknüpfte?
Mach schon! Los!
Kurz entschlossen griff er nach Drähten, Ladung und Sprengkapsel, doch anstatt sie miteinander zu verbinden, wuchtete er sie mit letzter Kraft in den Lichtschacht hinein – in jenen leeren Kanal, durch die er seine Ratten gescheucht hatte. In jenen Hohlraum, durch den die Klänge aus dem Konzertsaal nach unten drangen.
Er musste sich beeilen! Er hatte seinen Rechner darauf programmiert, die Artikel zu den Zeitungsredaktionen zu versenden, und zwar in etwa anderthalb Stunden. Noch neunzig Minuten verblieben ihm, um seine Zelte abzubrechen und dann nach oben, zurück zu seinem Hotel zu gelangen – falls ihm sein Leben lieb war. Ein Leben, das ihm vor Kurzem noch völlig egal gewesen war.
102. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 20:27 Uhr
Von der linken Bühnenseite aus verfolgte Meer, wie Sebastian in Gewahrsam genommen wurde. Nach ihrer Ansicht würde man die Geschehnisse später unbedingt ergründen und beleuchten müssen. Welche Folgen mochte es haben, dass am heutigen Abend, hier in Wien, Tausende durch Sebastians Handeln an grausame, entsetzliche Erlebnisse erinnert worden waren? An Episoden aus der Vergangenheit, die sie schon einmal durchlebt und dann verloren hatten.
Bei seinen zahlreichen Versuchen, Meer das mystische Licht der Weisheit näherzubringen, hatte ihr Vater ihr erklärt, dass mit dem Tode unsere Seele den Körper als reines weißes Licht verlässt, das sich in Abertausende von Fragmenten auflöst. Jedes dieser Teilchen, so Jeremy, kehrt zu einer anderen Zeit in einem anderen Wesen zurück. Und eines Tages fügen sich all diese Bruchteile wieder zu einem Ganzen zusammen.
Welche Seele mochte in Sebastians Körper hausen? War sie wohl wirklich ein Teil derer, die Major Wells innegewohnt hatte? Es schien so. Beide waren sie niederen, selbstsüchtigen Instinkten erlegen und hatten dadurch das Vermächtnis der Flöte besudelt. Wieso hatte Sebastian Otto die Lehren
Weitere Kostenlose Bücher