Wir sind doch Schwestern
Der 100. Geburtstag
Prolog
Er war dunkelgrau mit hellgrauer Maserung und sah aus wie Wolken an einem dieser undefinierten Sommertage, die man am Niederrhein so oft erlebte.
Katty beugte sich tiefer ins Innere des alten Schrankes, um den merkwürdigen Pappdeckel herauszuziehen.
»Au, verflixt!« Sie fluchte und steckte sich wütend den Finger in den Mund, saugte an der kleinen Wunde und schüttelte die Hand. Das alte Holz war porös, jetzt hatte sie einen Splitter in der Haut.
An der Rückwand war eine Vertiefung eingelassen, eine Art Geheimfach, wie man es früher in den Schränken gehabt hatte. Dieses Fach war ihr nie zuvor aufgefallen. Kein Wunder, dachte Katty, sie hatte sich diesen Schrank auch nie genau angesehen. Sie nestelte weiter an der gemaserten Oberfläche, und als die mit einem kleinen Ruck nachgab, fiel ihr ein alter Aktenordner entgegen.
Sie nahm ihn, pustete den Staub ab und öffnete den Deckel:
Im Namen des deutschen Volkes
Katty wusste sofort, was sie da in den Händen hielt. Sie taumelte rückwärts, fand mit ihrem Po das Bett, setzte sich und las.
Die Überschrift über dem Urteil war doppelt unterstrichenund mit einem Ausrufezeichen versehen. Katty war verwundert. Sie hatte immer gedacht, der Satz »Im Namen des Volkes« gehe nahtlos über in den Nachsatz »ergeht folgendes Urteil«. Sie hatte das schriftliche Urteil nie zu Gesicht bekommen. Den Ordner hielt sie zum ersten Mal in der Hand, und in ihr stritten Neugier und schlechtes Gewissen. Neugier, weil sie sich fragte, ob darin noch Informationen verborgen waren, von denen sie nichts wusste. Und das schlechte Gewissen, weil Heinrich sie auf dem Sterbebett gebeten hatte, den Ordner und alles, was zu dieser Geschichte gehörte, zu verbrennen und zu vergessen.
Da war er nun, der Aktenordner. Katty hatte ihn nie verbrannt. Sie hatte ihn nur vergessen. Als Heinrich sie gebeten hatte, den Ordner nach seinem Tod zu entsorgen, war sie zu entsetzt von der Vorstellung gewesen, dass er bald sterben könnte, und war deshalb nicht auf die Idee gekommen, zu fragen, wo der Ordner sich denn überhaupt befinde. Hier also. Tief im Schrank. Versteckt hinter alten Tischdecken.
Katty legte den Ordner neben sich auf das Bett. Ihr Herz klopfte heftig. Sie starrte auf das graue Etwas, nahm es erneut in die Hand und klappte es wieder auf. Mit dem Daumen fuhr sie an dem Papier entlang. Das Rascheln hörte sich alt an. Es ist alt, dachte Katty, mein Gott, das ist fast fünfzig Jahre her. Ich sollte das olle Ding einfach in den Müll schmeißen. Und doch wusste sie, dass sie es nicht tun würde. Auch wenn es alte Wunden aufrisse und die Scham wieder aufflammen ließe, sie würde dem Drang nicht widerstehen können und alles lesen. Aber nicht jetzt. Später, wenn sie etwas Zeit hätte. Nächste Woche vielleicht. Denn bis dahin gab es noch einiges zu tun. Katty war dabei gewesen, ihr Zimmer auf- und sogar auszuräumen. Ihre Schwester Gertrud würde am nächsten Tag zu Besuch kommen und einige Zeit bleiben. Vielleicht für immer, darüber würde zu reden sein. Aber erst einmal würdegefeiert, denn am kommenden Sonntag hatte Gertrud Geburtstag, nicht irgendeinen: den hundertsten Geburtstag.
Katty wollte ihrer Schwester das Zimmer zur Verfügung stellen, in dem sie selbst normalerweise schlief, da es ebenerdig lag, und sie auf keinen Fall wollte, dass Gertrud jeden Abend die Treppen zu den anderen Schlafräumen hinaufklettern müsste, auch wenn sie dazu körperlich durchaus noch in der Lage gewesen wäre. Gertrud war schlank und drahtig und wenn man es nicht besser gewusst hätte, wäre sie als Achtzigjährige durchgegangen. Ungefähr so alt, wie Katty jetzt war. Und ich, fragte sie sich. Wie alt wirke ich wohl? Sie ging durch die geöffnete Tür ins angrenzende Badezimmer und blickte in den Spiegel. Ihr Haar war honigblond, sie färbte es regelmäßig. Sie hatte kaum Falten, das lag allerdings auch daran, dass sie ein bisschen zu mollig war. Aus den Siebzigerjahren hatte sie zudem ihre Lieblingsbrille behalten. Die war mit ihren quadratischen Gläsern enorm groß und wenn Katty Falten rund um Augen und Nasenwurzel gehabt hätte, wären die hinter dem dicken Horn eh nicht aufgefallen. Knapp sechzig, entschied sie und lächelte. Sie griff sich ihr Nageletui und holte die Pinzette heraus. Ein kleines Stückchen Holzsplitter steckte noch in ihrem Mittelfinger. Sie ritzte die Haut vorsichtig auf, um das Ende des Splitters besser greifen zu können. Dann entfernte sie
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