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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
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Stadtteil.”
    Meer empfand das ungleichmäßige Auf und Ab als seltsam wohltuend, ebenso wie die zwei- und dreigeschossigen Wohnhäuser, die die engen Gassen säumten. Alle waren in fantasievollen Farben gestrichen, und fast auf allen Fensterbänken prangten üppig bepflanzte Blumenkästen. Die Gegend erinnerte sie an eine ältere, vornehmere Version von Greenwich Village in New York. Schließlich hielt der Taxifahrer vor dem Haus Kirchengasse Nummer 83, einem dreigeschossigen Haus mit hellblauer Fassade und dunkelgrünen Fensterläden. Das Domizil ihres Vaters.
    Meer drückte die Türglocke. Im Mittelpunkt der Tür hing ein Kranz aus getrockneten Lorbeerblättern, die sie alle durchzählte, während sie auf die Schritte ihres Vaters lauschte. Bei zwanzig angekommen, klingelte sie noch einmal. Bei zweiundzwanzig freundete sie sich mit dem Gedanken an, dass er wohl nicht daheim war.
    Da sie sich erst am Vortag kurzfristig zur Reise entschlossen und über ein Reisebüro einen Last-Minute-Flug gebucht hatte, war sie kaum dazu gekommen, ihren Vater von ihrem Kommen zu unterrichten. Sie hatte ihn am Abend vom Flughafen aus angerufen und ihm auf dem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen, sie werde zunächst zum Hotel fahren und anschließend gegen elf bei ihm eintreffen, vorausgesetzt, die Maschine landete pünktlich. Nun war sie zwar etwas früh dran, aber wäre er wohl so kurz vor der vereinbarten Zeit noch ausgegangen? Doch höchstens dann, wenn er etwas Dringendes zu erledigen hatte, das er kurzfristig nicht absagen konnte. Aber hätte er ihr dann nicht eine Nachricht zukommen lassen? Oder sie auf dem Handy angerufen? Da fiel ihr ein, dass sie in der Hektik vergessen hatte, ihr Mobiltelefon für Auslandsgespräche zu aktivieren. Jetzt konnte sie nicht einmal nachprüfen, ob er angerufen hatte.
    Vielleicht hatte er die Klingel nicht gehört, weil er unter der Dusche stand oder gerade herausgekommen war? Sie rang sich zu einem allerletzten Versuch durch und lauschte den leicht verstimmten Klängen des Gongs – der letzte Ton lag eine halbe Note zu tief.
    Als kleines Mädchen hatte sie eine Sprache erfunden, die aus lauter musikalischen Tönen bestand – komplette Gedanken und Sätze, ausgedrückt in einer Notenreihe. Selber ständig von Tönen umgeben, war sie es zwar gewohnt, dass andere Menschen außerhalb dieses Systems lebten, doch ihr Vater hatte sich diese Sprache ebenfalls angeeignet, und mit der Zeit hatte sie sich zu einem ganz besonderen Band zwischen ihnen entwickelt. Den etwas schiefen Gongschlag, so dachte sie jetzt beinahe schmunzelnd, würde sie ihm wohl bei Gelegenheit einmal übersetzen müssen.
    Als die letzten Schwingungen verhallten, legte Meer das Ohr ans Türblatt. Aus dem Hausinneren drang Musik, doch von sich nähernden Schritten war nichts zu hören. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass es zehn vor zehn war.
    Das Gebrumm einer Hummel, die um den Blumenkasten surrte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Zwar plump und langsam im Flug, wirkte das Insekt doch auf seine eigene lästige Weise melodisch, wie es so vom linken Blumenkübel zum rechten schwirrte, dabei in einen Begonienkelch tauchte, danach auf einem Lavendelstängel zwischenlandete und schließlich durch das geöffnete Fenster im Haus verschwand.
    Das Fenster offen?
Warum war ihr das nicht aufgefallen? Über den Blumenkasten gebeugt, steckte sie den Kopf durch den Spalt und rief “Hallo?”.
    Keine Antwort.
    Meer war frustriert und müde; dies hier war das Haus ihres Vaters, von Hausfriedensbruch, so ihre Überlegung, konnte da wohl keine Rede sein. Also drückte sie den Fensterflügel weiter auf und stieg hindurch. Nach dem strahlenden Sonnenschein draußen mussten sich ihre Augen erst an das Halbdunkel gewöhnen. Neben der Couch türmten sich etliche Bücher; eine Schranktür stand weit offen. Hin- und hergerissen, ob sie dem Kaffeeduft folgen sollte oder lieber der Musik, entschied sie sich für Letzteres und landete schließlich im völlig überfüllten Arbeitszimmer ihres Vaters. Die deckenhohen Regale waren mit so vielen Bänden vollgestopft, dass Meer, wären sie alle auf einmal umgekippt, wohl von der Bücherlast zerquetscht worden wäre.
    Ein riesiger Papierstapel war über den ganzen Schreibtisch verteilt, und eine herausgezogene Schublade klaffte gähnend wie ein zum Schrei geöffneter Mund. Nun war ihr Vater noch nie der Ordentlichste gewesen, aber dieses Durcheinander kam Meer doch etwas übertrieben vor.

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