Der Beethoven-Fluch
Inzwischen hatte sich die Hintergrundmusik derart in ihr Unterbewusstsein vorgearbeitet, dass sie automatisch die Noten mit der linken Hand mitspielte. Vielleicht war ja alles in Ordnung; vielleicht war sie nur dem unheilschwangeren Zauber der Sinfonie verfallen. Es war ein faszinierendes Rätsel, wie Menschen gefühlsmäßig auf Dur und Moll reagierten, und zwar auf einer Ebene, die das Bewusstsein quasi umging. Momentan befasste sich eine laufende Ausstellung im Memory Dome mit der Frage, wie C. G. Jungs Theorie vom kollektiven Unbewussten auf das musikalische Gedächtnis anzuwenden ist. Wie es kam, dass ein Stamm afrikanischer Buschmänner, die noch nie eine Geige gehört hatten, bei einem wehmütigen Violinkonzert in Tränen ausbrach? Oder dass in Frankreich ein 15-jähriges Mädchen, das nie in Indien gewesen war, zum ersten Mal im Leben einen Sitar hörte und ohne jegliche Unterweisung in einen tief meditativen Zustand verfiel? Oder dass ein Kind geisterhafte, für andere unhörbare Musik vernahm und dabei solche Angstzustände bekam, dass es vor den Klängen davonzulaufen versuchte? Immer wieder. Auch jetzt noch.
Das alles verlieh Johannes Brahms’
Tragischer Ouvertüre
einen noch unheilvolleren Anstrich.
“Dad?”, rief Meer gellend, selbst bestürzt darüber, dass ihre Stimme so panisch klang. Nur die Musik antwortete: melancholische Klarinettenklänge, die in ein stürmisches Crescendo mündeten.
“… hörten die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Simon Posner.”
Meer fuhr herum, doch es war niemand da.
“Die Zeit: Es ist zehn Uhr.”
Jetzt erst dämmerte ihr, dass die Stimme einem Radiosprecher gehörte und aus kleinen, ins Bücherregal eingebauten Lautsprecherboxen drang. Aber wieso war die Stereoanlage an, wenn doch niemand zu Hause war? Es musste jemanden geben, den sie anrufen und fragen konnte, wo ihr Vater stecken mochte … Jemanden im Auktionshaus möglicherweise. Vielleicht war’s gar besser, zurück zum Hotel zu fahren und darauf zu warten, dass ihr Vater sich meldete.
Im Flur wandte sie sich nach rechts statt nach links. Durch eine offene Tür sah man in ein Schlafzimmer, in dem anscheinend alles in bester Ordnung war. Möglicherweise, so mahnte sie sich, hatte sie überreagiert. Inzwischen tönte aus dem Radio Strawinskys
Feuervogel-Suite
– Musik, die nicht ganz so düster klang, sodass Meer stehen blieb und ein Weilchen zuhörte. Und genau in dem Moment, als sie sich endlich ein ganz klein wenig entspannte, drang ihr der Geruch in die Nase: Verveine. Das Aftershave ihres Vaters, solange sie zurückdenken konnte. Diesmal nicht nur ein Hauch, sondern eine ganze Duftwolke. Als sie das Zimmer betrat, sah sie auf der Kommode Glasscherben in einer goldfarbenen Lache. Dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, war ganz eindeutig.
Sie machte kehrt und ging zurück, nach ihrem Gefühl Richtung Wohnzimmer beziehungsweise Haustür, doch stattdessen fand sie sich in der Küche wieder, wo ihr ein stetiges, rhythmisches Tropfen auffiel. Sie hätte es nicht erklären können, aber sie hielt es für angebracht, vor dem Verlassen des Hauses den Wasserhahn ordentlich zuzudrehen. Auf dem Weg zur Spüle stieß sie mit dem Fuß gegen ein Hindernis, senkte den Blick und sah nicht etwa wie erwartet ein Stuhlbein, sondern einen Schuh. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben und beiseitezulegen. Nur steckte er noch an einem Fuß. Da lag jemand unter dem Küchentisch! Ihr Vater?
Meer schluckte einen Schrei herunter. Sie atmete stoßweise, während sie sich auf Hände und Knie niederließ und unter den Tisch spähte.
Nein, es war nicht ihr Vater, sondern eine ihr völlig unbekannte Frau von etwa sechzig Jahren mit sympathischem Gesicht und kurzem grauem Haar. Etliche Eindrücke stürmten gleichzeitig auf Meer ein: ein riesiger blauer Fleck auf der rechten Wange der Frau, eine Zickzacklinie aus geronnenem Blut, ausgehend vom Mundwinkel, das linke Bein offenbar gebrochen und in einem grotesken Winkel verbogen. Resultat eines Sturzes? Aber wozu hätte die Frau dann unter den Tisch kriechen sollen? Nein, sie war hierhergezerrt worden, das erkannte Meer jetzt an der verschobenen Bluse und den hoch gerutschten Hosenbeinen. An ihrem Handgelenk schimmerte eine goldene Armbanduhr.
“Keine Angst, ich rufe Hilfe …”, redete Meer auf Englisch auf die Frau ein. Gleichzeitig aber fiel ihr die Blässe auf, der glanzlose Blick, die Starre. Rasch fasste sie nach dem Handgelenk und tastete nach dem
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