Der Beethoven-Fluch
Lurgrotte, einer Tropfsteinhöhle unter einem Kieferngehölz in der Nähe von Graz, zwei Autostunden von Wien entfernt. Und die Schachtel, in der sich eigentlich die aus dem Jahre 1894 stammende Karte der Lurgrotte befinden musste, die enthielt jetzt die Karte mit den Stollen unter dem Musikverein in der Bösendorferstraße Nummer 12.
Während er die Eingangshalle durchquerte, betrachtete er die extravaganten Wandgemälde und merkte sich deren Pracht für die letzte noch zu schreibende Artikelserie. Den Auftrag dazu hatte er zwar noch nicht, doch dass die Reihe veröffentlicht werden würde, daran bestand kein Zweifel.
Draußen drang ihm ein blumiger Duft in die Nase, und er wusste instinktiv, dass Flieder in der Nähe blühen musste. Richtig – dort drüben wuchs ein üppiger Fliederbusch. Sofort änderte David die Richtung, um nur nicht an jenen Blumen vorbeigehen zu müssen, die seine Frau stets in ihr gemeinsames Schlafzimmer gestellt hatte. Während er darüber nachdachte, was er in den vergangenen Stunden erreicht hatte, fragte er sich, ob der ganze zusätzliche Aufwand doch vergebene Liebesmüh sein würde. Global Security verfügte über ein hochmodernes Satellitensystem. Hatten die es da überhaupt nötig, alte Karten zu konsultieren? Nun, falls ja, war es wohl unwahrscheinlich, dass sie die gerade versteckte bis Donnerstag auftreiben würden. Dann nämlich würde er Beethovens 3. Sinfonie in Es-Dur in ein Volksbegehren verwandeln, in einen Warnruf und in sein eigenes Requiem.
Nein, bis dahin würden sie die Karte im Leben nicht finden. Dann schon eher ihn selbst.
15. KAPITEL
S amstag, 26. April – 11:20 Uhr
Im Inneren des Auktionshauses Dorotheum angelangt, deutete Sebastian Otto an den Versteigerungssälen vorbei auf ein Treppenhaus. “Die Verwaltung ist dort oben.”
In Gedanken nach wie vor bei jenem beängstigenden Tagtraum, den sie draußen gerade erlebt hatte, bemerkte Meer, wie Sebastian ihr die Hand bot. Ihr Vater und Malachai hätten vermutlich steif und fest behauptet, das eben Geschehene sei ein ausgewachsener Erinnerungssprung gewesen – ein Fragment eines Vorlebens, das da wie eine Luftblase an die Oberfläche ihres Bewusstseins gestiegen war. Sie waren immer schon der Meinung gewesen, dass all ihre Erinnerungen an das Gewitter und die Hetzjagd im Wald auf solchen Erinnerungssprüngen basierten. Meer selber hingegen kam aufgrund ihrer Studien zu dem Ergebnis, dass es sich wieder bloß um eine Pseudoerinnerung handelte. Diesmal allerdings keine beliebige, sondern eine aus einer bestimmten geschichtlichen Periode.
Sie hatte sich mittlerweile so viel vom Europa des 18. und 19. Jahrhunderts angelesen – da war es durchaus möglich, dass sie diese kleine Szene mithilfe ihrer Fantasie frei erfunden hatte. Ähnlich, wie sie inzwischen glaubte, dass ihre Tagträume aus der Kinderzeit wohl von einer vorgelesenen Geschichte herrühren mussten, beispielsweise einem Märchen, das sie sich anschließend zu ihrem ganz persönlichen Albtraum zurechtgebogen hatte. Überreizte Fantasie, so nannten das die Wissenschaftler. Ja, im Grunde genommen leuchtete es sogar ein, dass ihr Gehirn dieses Trugbild fabriziert hatte. Sie hatte ja während des Fluges nicht viel geschlafen, war übermüdet … stand nach dem Auffinden der Leiche unter Schock … machte sich Sorgen um ihren Vater …
Inzwischen hatten sie einen Bürotrakt erreicht, wo bereits ein ziemliches Durcheinander herrschte. In einem engen Empfangsbereich drängelten sich ein Dutzend Leute, vermutlich Mitarbeiter des Auktionshauses, ferner auch Polizisten, die Meer vom Einsatz im Haus ihres Vaters wiedererkannte.
Hinter einem wuchtigen Schreibtisch verschanzt saß eine adrett angezogene junge Dame mit Perlenkette und schwarzem Dutt. Sie hielt Meer und Sebastian an und stellte ihnen eine Frage auf Deutsch. Nachdem Sebastian geantwortet hatte, stand die Rezeptionistin auf, kam um den Schreibtisch herum und auf Meer zu. “Bitte, treten Sie näher”, bat sie auf Englisch. “Im Augenblick geht’s hier ein wenig chaotisch zu. Die Polizei ist gerade aufgekreuzt und möchte mit Ihrem Vater sprechen.”
“Ist er hier?”
“Am Samstagmorgen geht Mr. Logan immer in die Synagoge … ach, das wissen Sie ja sicher. Eigentlich müsste er noch hier sein …”
Meer wusste keineswegs, dass ihr Vater am Sabbat die Synagoge aufsuchte, doch es wunderte sie nicht.
“Als er Sie anrief”, wandte sie sich an Sebastian Otto, “war er da wohl gerade
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