Der Beethoven-Fluch
“No English?”
Bruder Franziskus bestätigte.
Meer trat zu ihrem Vater, wies auf eine ganz rechts am obersten Regal angebrachte Tafel und flüsterte ihm etwas zu, ganz leise, um den Mönch, der seinen Vortrag wieder aufgenommen hatte, nicht zu unterbrechen. Als Bruder Franziskus verstummte, schwieg auch Meer.
Jeremys Übersetzung erfolgte zwar etwas verzögert, doch irgendwie hatte er dennoch mitbekommen, was sowohl der Mönch als auch seine Tochter gesagt hatten. “Das erste Herz hier ist das von Ferdinand IV., römisch-deutscher König, beigesetzt am 19. Juli 1654. Das letzte ist das von Kaiser Franz Karl von Österreich, hier beigesetzt am 8. März 1878.”
So nahe an das Regal herantretend wie nur möglich, zählte Meer sicherheitshalber die Urnen ein zweites Mal durch, und zwar von links nach rechts. Abermals hielt sie an der neunten Urne inne, angestrengt bemüht, die Inschrift auf dem darunter angebrachten kleinen Messingschild zu entziffern. Der Text war auf Deutsch; verstehen konnte sie nur die Worte
“Maria Theresia”
sowie die Jahreszahl:
1696.
Die kleine Silberurne ruhte auf Kugelfüßen. Um den oberen Rand herum liefen drei Herzreihen; eine Herzspitze passte immer genau oben in das Dreieck, das die Rundungen des davor liegenden Herzens bildeten – eine in sich geschlossene Kette aus lauter Herzen. Das Gefäß stand etwas schief; an einigen Stellen wies es leichte Dellen auf.
Die neunte Urne …
Das Kartenspiel aus der Spielekassette, das Meer noch hatte anschauen können, enthielt die Herz Neun doppelt.
Eine zusätzliche Herz Neun.
Was mochte das zu bedeuten haben? Hatten alle Kartenspiele eine Karte doppelt? Wie sollte man das jemals herauskriegen?
“Meinst du, die Habsburger haben sich das von den alten Ägyptern abgeschaut?”, fragte Meer ihren Vater. Dabei rutschte ihr ein Kiekser heraus, den hoffentlich niemand bemerkte. Jeremy holte zu einer Antwort aus, doch plötzlich versagte ihm die Stimme, sodass er innehalten musste. Und ganz unvermutet sackte er in sich zusammen.
“Dad?” Meer ging neben ihm in die Knie, packte sein Handgelenk und fühlte ihm den Puls. “Er braucht einen Arzt!”, rief sie.
“Ein Notfall!”, schrie Sebastian. “Den Notarzt, schnell!”
Hastig eilte der Mönch davon.
42. KAPITEL
D ienstag, 29. April – 09:38 Uhr
Kaum dass der Mönch davongeeilt war, um den Notarzt zu alarmieren, wandelte sich Meers Miene von Entsetzen zu einem Ausdruck höchster Konzentration. Sie durfte keine kostbare Sekunde verlieren, konnte sich nicht damit aufhalten, Sebastian und Malachai zu erklären, was mit ihr vorging. Während die beiden also mit sorgenvollen Gesichtern neben dem am Boden liegenden Jeremy knieten, raffte sie sich auf und wandte sich blitzschnell zu dem Urnenregal. Sie öffnete das neunte Gefäß auf dem obersten Bord und griff hinein, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Ihr blieb keine Zeit, den fast vierhundert Jahre alten mumifizierten Inhalt genauer in Augenschein zu nehmen, keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sie womöglich im Begriff war, sterbliche Überreste einer königlichen Verstorbenen zu schänden.
Was von dem menschlichen Herzen übrig war, fühlte sich an wie eine Trockenpflaume – verschrumpelt und lederartig. Darunter aber stießen Meers Finger auf etwas Kühles, Glattes. Etwas Winziges. Sie überlegte nicht lange, was es wohl sein mochte oder was sie damit anfangen sollte. Sie wunderte sich nur über die Maßen, dass sie intuitiv geahnt hatte, dass hier etwas auf sie wartete.
Verstohlen steckte sie den Gegenstand in die Hosentasche, wandte sich wieder ihrem Vater zu und ließ sich etwas rechts von Sebastian auf die Knie nieder. Ob einem der beiden Männer ihr kleines Intermezzo aufgefallen war, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen.
Kurz darauf trafen die Sanitäter ein und begannen mit den lebensrettenden Maßnahmen.
43. KAPITEL
D ienstag, 29. April – 09:45 Uhr
Lucian Glass und Alexander Kalfus hatten am Straßenrand Beobachtungsposten bezogen. Aus ihrem kleinen silberblauen Wagen heraus verfolgten sie, was sich draußen vor der Kirche tat. Ein Rettungswagen brauste heran, ein Mönch kam eilig aus dem Gebäude gestürzt, um das Rettungsteam in Empfang zu nehmen; Sanitäter verschwanden im Laufschritt durch das Portal. Ein Einsatzfahrzeug der Polizei traf ein.
Lucian war drauf und dran, den Sanitätern nachzugehen und mit eigenen Augen zu sehen, was los war. Als jemand, der bei seinen Ermittlungen viel in
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