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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
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lagen, zu nahe zu treten. Vielleicht hatte ja das Pflegepersonal die Tür offen gelassen, und die Kranken waren zu schwach, um sie selber zu schließen. Hätte Meer ihr Leid und ihre Not mitbekommen – sie wäre tagelang nicht davon losgekommen, wusste sie doch nur zu gut, wie es ihnen ging. Damals war sie zwar erst neun gewesen, doch die langen Wochen, die sie bewegungsunfähig ans Bett gefesselt verbrachte, schutzlos den neugierigen Blicken vorbeigehender Besucher ausgesetzt, die hatten sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis eingegraben.
    Die Tür zu Zimmer 316 stand so weit offen, dass Meer eine Ärztin erkennen konnte, die in weißem Kittel neben dem Bett ihres Vaters stand. Sie hatte den Rücken zum Eingang gekehrt, sodass man ihre Miene nicht sehen konnte. Ihre Stimme aber klang ernst – nach Meers Gefühl zu ernst für das kleine Täuschungsmanöver, das ihr Vater sich in der Kapelle ganz spontan hatte einfallen lassen.
    “Entschuldigung!”, meldete Meer sich von der Schwelle aus.
    Die Ärztin guckte sich um. Mit deutlich ungehaltener Miene sagte sie etwas auf Deutsch, das Meer nicht verstand.
    Jeremy setzte sich im Bett auf, erwiderte etwas auf Deutsch und wandte sich dann an Meer. “Komm rein, Schätzchen. Das ist Dr. Lintel.” Er nickte der Ärztin zu. “Dr. Lintel, meine Tochter.”
    Jetzt rang die Ärztin sich doch zu einem Lächeln durch. Sie begrüßte Meer auf Englisch und bot ihr die Rechte.
    Meer schüttelte ihr die Hand. “Wie geht es meinem Vater?”, fragte sie, wohl wissend, dass eigentlich nichts mit ihm war. Aber sie musste das Spiel ja mitspielen.
    “Wir müssen noch einige Untersuchungen durchführen.”
    Überrascht, aber bemüht, nicht erschrocken zu wirken, wandte Meer sich an ihren Vater. “Untersuchungen? Wozu denn das?”
    Jeremy lächelte. “Die Frau Doktor meint zwar, es sei nur eine Panikattacke, aber sie möchte mich gern noch ein wenig piesacken.”
    Meer verstand nicht recht. Sie und ihr Vater hatten den Kollaps in der Kapelle ruckzuck im Flüsterton abgesprochen und dann kurz entschlossen vorgetäuscht, denn Meer hatte auf einmal begriffen – urplötzlich gewusst, erstaunlicherweise –, dass in der Krypta ein Schlüssel begraben lag, und zwar in einer ganz bestimmten Urne. Deshalb hatte sie ihren Vater gebeten, den Mönch kurz abzulenken, damit sie dem intuitiven Hinweis nachgehen konnte. “Panikattacke, okay?”, hatte ihr Vater ihr zugeraunt, womit für sie alles klar war. Diese Show hatte er nämlich schon einmal abgezogen, und seine Schilderung der Begebenheit hatte früher zu Meers spannendsten Gutenachtgeschichten gehört: wie er in der damaligen DDR einen Grenzsoldaten ausgetrickst hat, indem er einen Herzinfarkt vortäuschte, der hinterher als Panikattacke diagnostiziert wurde. Und alles so, dass kein Mensch Verdacht schöpfte.
    “Er hat Ihnen doch sicher gesagt, dass er schon öfter Panikattacken hatte, oder?”, fragte Meer die Ärztin, die das nickend bestätigte. “Wozu dann noch groß untersuchen?”
    “Um andere Ursachen auszuschließen”, beschied Dr. Lintel brüsk. Sie war nicht direkt abweisend, sagte aber auch kein Wort mehr als notwendig. Ob das ein Charakterzug war oder nur schlechtes Benehmen, war Meer ein Rätsel.
    Schlagartig ging Meer auf, dass ein ernster Grund tatsächlich nicht auszuschließen war. “Dad”, sagte sie, “ist mit dir etwa wirklich etwas nicht in Ordnung?”
    Er lachte auf seine typisch abwiegelnde Weise, die einen immer glauben machte, er habe alles im Griff, und sei das Problem noch so gewaltig. Als er damals – sie war da gerade zwölf – aus der gemeinsamen Wohnung auszog, da hatte sein Lachen zu den Dingen gehört, die sie am meisten vermisste. Jenes Lachen und die Erleichterung, die sie dabei stets verspürte. “Ach was, Mäuschen. Alles in bester Ordnung. Alles nur Routineuntersuchungen, nicht wahr, Doktor Lintel?”
    Die Ärztin gab ihm eine knappe Antwort, jedoch auf Deutsch, woraufhin er ihr auf Deutsch etwas erwiderte.
    Heimlichtuerei war Meer zuwider. Das war schon immer so gewesen. Früher hatte ihre Mutter sie regelmäßig dabei ertappt, wie sie Telefongespräche über einen Nebenanschluss mithörte oder hinter der Tür lauschte – immer bemüht, irgendwie mitzubekommen, ob man über sie redete und ihr etwas verheimlichte. Es gab nämlich so manches, das die Eltern ihr verschwiegen. Allerdings auch vieles, das ihre eigene Psyche vor ihr verbarg: diffuse, wie in Nebelschwaden gehüllte Bilder und

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