Der Beethoven-Fluch
April – 20:20 Uhr
Nachdem man im Wohnzimmer Platz genommen hatte, schenkte Jeremy allen ein Glas Wein ein und unterrichtete Malachai ausführlich über die jüngsten Ereignisse, angefangen mit dem Überfall in Genf bis hin zum Raub im Dorotheum. Malachai hörte sich alles an, nippte an seinem geschliffenen Kristallglas, nickte und fragte dann Meer, sobald ihr Vater geendet hatte: “Und jetzt mal Klartext: Was ist mit Ihnen?”
Sie zögerte.
“Es ist ja nachvollziehbar, dass diese Vorgänge bestürzend für Sie sind; schließlich haben Sie sich jahrelang dagegen gesträubt. Aber es hilft bestimmt, wenn Sie darüber reden können. Also, Meer, geben Sie sich einen Ruck.”
Sie schilderte, was im Auktionshaus und später in Beethovens Wohnung mit ihr vorgegangen war, und schloss mit dem Besuch auf dem Friedhof.
“Wussten Sie bereits vorher”, forschte Malachai, “dass die Frau in den Erinnerungssprüngen Margaux hieß? Schon ehe Sie den Grabstein sahen?”
Meer bejahte.
“Der Mann von dieser Margaux, der hat die Flöte in Indien gefunden”, warf ihr Vater erklärend ein. “Und dann ist er dort gestorben.”
Die eiskalten Ringe schlossen sich um sie, zerrten an ihr, als wollten sie Meer in die Tiefe reißen. Die Hände vors Gesicht geschlagen, spürte sie, wie der Kummer gleich einer riesigen Woge über sie hinwegschwappte. “Nein!” Wie ein Schrei brach es über ihre Lippen. “Er lebt! In Indien! Deshalb muss ich doch das Geld aufbringen! Das brauche ich für eine Suchexpedition!” Sie sehnte sich nach Caspar, verzehrte sich nach einem Mann, dessen Namen sie bis Sonntag noch nie gehört hatte. Einen Mann, für den sie jedes Opfer brächte, könnte sie ihn nur finden und retten und wohlbehalten nach Hause holen, zurück zu ihr.
Wie aus weiter Ferne drang die Stimme ihres Vaters an ihr Ohr. “Malachai! Hör auf damit! Du siehst doch, was du damit anrichtest!”
“Es ist wichtig, Jeremy! Sie erinnert sich!”
“Nein!” Jeremys Stimme wurde laut und zornig.
Malachai indes redete ungerührt weiter auf Meer ein. “Was ist, Meer? Was passiert jetzt?”
Unter Aufbietung aller Kräfte tastete sie durch die schwarzen Tiefen, angestrengt bemüht, eine Antwort zu finden. “Beethoven hatte die Flöte … er versuchte, die Melodie herauszubekommen … über die in den Knochen geschnitzten Zeichen …”
Obwohl mitten in einem eiskalten Nebel gefangen, war sie doch selber überrascht. Die Gravuren? Die sollten der Schlüssel zu der Weise sein?
“Können Sie sagen, ob Beethoven die Tonfolge entziffert hat?”
Es wurde wieder dunkel, und zwar auf eine vertraute Art, die schlimmer war als jede ihrer Anwandlungen. In ihrer Kindheit war es genau diese Finsternis gewesen, die sich um jene eine, sich ständig wiederholende Erinnerung legte – Erinnerung an eine Frau, eine Reiterin im Männermantel, die in wilder Flucht durch einen Wald galoppierte. Sie hörte das Schnauben des Pferdes, fühlte das Prasseln des Regens, roch die nasse Wolle des Mantels. Dann aber löste sich das Bild in Schwärze auf, und zurück blieb nur diese überwältigende Traurigkeit.
“Margaux?”, fragte Malachai.
“Es reicht, Malachai!”, zischte Jeremy scharf.
Malachai wandte sich halb zu ihm um. “Wenn es diese Flöte wirklich noch gibt, wenn wir belegen können, dass Margaux Niedermeier damals Beethovens Klavierschülerin war …”
“Damit brauchst du Meer nicht zu belästigen! Dass Margaux Niedermeier im Jahre 1814 Klavierstunden bei Beethoven nahm, kann ich auch so nachweisen! Heute Nachmittag, nach der Rückkehr vom Friedhof, da habe ich in einer Datenbank mit Beethovenbriefen recherchiert. Da ist mehrmals von einer Margaux Niedermeier die Rede.”
Die Kälte wich, das Frösteln ließ nach. Aufmerksam lauschte Meer dem Bericht ihres Vaters.
“Hast du sonst noch etwas über sie gefunden?”, erkundigte sich Malachai.
“Auf die vollständigen Brieftexte habe ich keinen Zugriff. Die Datenbank enthält lediglich ausgewählte Beispiele, aber in einem Brief vom September 1814, da wird eine Margaux Niedermeier namentlich erwähnt.”
Genau so war es gewesen, als sie noch ein Kind war, stets ihrem forschenden Blick ausgesetzt: als wäre sie Gesprächsgegenstand, nicht ein Mensch. Sie stand auf. “Ich halte das nicht mehr aus. Ich brauche eine Pause.”
“Selbstverständlich”, betonte Malachai. “Die brauchen wir alle.”
Sie hörte zwar den besorgten Unterton in seiner Stimme, doch auch eine gewisse Hoffnung
Weitere Kostenlose Bücher