Der Beethoven-Fluch
ob ein Zimmer frei ist.”
Sie sah ihm nach, wie er zur Rezeption ging, hochgewachsen und erstaunlich gefasst. Dabei war er vor wenigen Minuten noch genauso nervös gewesen wie sie. Welcher Sebastian ist echt?, fragte sie sich beklommen. Im Grunde kannte sie ihn überhaupt nicht. Nicht wirklich.
Ihr inneres Metronom begann heftig auszuschlagen; sie überkam eine dunkle Ahnung, dass sämtliche Umstände unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuerten und dass sie eigentlich Hals über Kopf die Flucht hätte ergreifen müssen – selbst vor Sebastian. Solche diffusen Angstzustände waren ihr nicht neu. Sie hatte sie erst als Kind erlebt, dann später auch während des Studiums, und sie kannte die Symptome: Schweißausbrüche, Frösteln und Herzrasen.
Fünf Minuten später schloss der Hoteldirektor die Tür zu Zimmer 23 auf, einer graublau gestrichenen Junior-Suite mit hohen Decken, Parkett und großen Doppelfenstern, die zu einer auf der anderen Straßenseite stehenden Kirche hinausgingen. Und genau vor diesen Fenstern, gleichsam als hätte es auf Meer gewartet, stand ein Bösendorfer. Der schwarze Schleiflack schimmerte seidig, die Tasten glänzten. Als würde der Flügel sie regelrecht darum bitten, von ihr gespielt zu werden.
Zum ersten Mal seit vier Stunden gab Meer ihre Tasche aus der Hand. Sie ließ sie tatsächlich los, stellte sie neben sich auf die Klavierbank. Die Finger auf der Klaviatur, schloss sie die Augen und verharrte stumm, all ihr Sinnen und Fühlen einzig auf das glatte Elfenbein gerichtet.
Hinter ihr sprach Sebastian noch mit dem Hotelmanager, aber Meer hörte gar nicht hin. Sie dachte auch nicht an das unschätzbare Kleinod in ihrer Handtasche, als sie begann, die Finger über die Tasten gleiten zu lassen und die ersten Töne von Beethovens Appassionata anzuschlagen – nicht etwa, weil sie sich die Sonate ausgesucht hatte, sondern umgekehrt. In diesem Augenblick gab es für Meer nur noch den Klangteppich, der all ihr Denken, ihr Bewusstsein, ihre Körperlichkeit überstimmte, der sie gleichsam auf den Schwingen der Musik in andere Sphären entrückte.
Dass Sebastian mit ihr sprach, wurde ihr erst bewusst, als er ihr die Hand auf die Schulter legte. Sie aber wollte gar nicht zurück in die Wirklichkeit. Sie wollte – nein, sie musste – zumindest dieses Stück zu Ende spielen. Sie hatte so lange einen Bogen um dieses Instrument gemacht – aus Angst, es könnte sich als Brücke zu ihren Albträumen erweisen. Jetzt allerdings, da sie ihren Erinnerungssprüngen sowieso nicht entkommen konnte, gab es keinen Anlass mehr für diese Verweigerung.
Als sie fertig war, lauschte sie noch mit gesenktem Kopf, wie die letzten Töne verhallten – der Übergang von Klang zu Stille, von Timbre und Ton zu reinen Schwingungen. Zwar fühlte sie sich nach dem Spielen kaum weniger besorgt, doch immerhin besser vorbereitet auf das, was nun auf sie zukam. So als habe die Musik sie dafür gerüstet.
Seufzend nahm sie ihre Handtasche wieder an sich. Es war Zeit. Sie klappte den übergroßen Lederbeutel auf, griff hinein, ertastete das Taschentuch, in das sie die Flöte eingewickelt hatte, und zog sie heraus. Die dünne Röhre war in Baumwolle gehüllt und leblos, und doch schien es Meer, als erfühle sie mit den Fingerspitzen etwas Lebendiges, Kraftvolles. Ungefähr so wie vorhin die Tasten des Pianos.
“Meer?”, fragte Sebastian, der sich neben sie setzte und ihr den Arm um die Schulter legte. “Seit fünf Minuten hören Sie mir schon gar nicht mehr zu. Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie zittern ja! Ich mache mir richtig Sorgen um Sie!” Er streichelte ihr übers Haar, als wäre sie ein Kind, das man beruhigen musste. “Sehen Sie sich mal an! Und dabei halten Sie sie bloß!”
“Das spielt keine Rolle. Sie könnte von riesiger Bedeutung sein für ganz viele Menschen, Sie eingeschlossen, Sebastian. Was, wenn die Flöte nun das Einzige ist, womit man Nicolas aus seinen Abgründen herausholen kann?”
Er beugte sich vor und küsste sie zart auf den Mund. Für Meer fühlte es sich an, als würde er Feuer von seinen Lippen auf die ihren übertragen; als müsste sie dort, wo er sie berührte, unauslöschliche Brandmale davontragen. Sie wich zurück, um nicht noch ärger versengt zu werden.
“Ich muss es tun!”, sagte sie. “Ich darf jetzt nicht davor zurückschrecken.” Sie schlug das Taschentuch auf und enthüllte die Flöte. Beide senkten den Blick auf den uralten, mit Hunderten von eingravierten
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