Der Beethoven-Fluch
Sprengstoff hineinzustecken.
Das Gebilde genauso sah aus wie eine von Bens Versuchsanordnungen, die er für den Physikunterricht gemacht hatte. Bloß jetzt nicht darüber nachdenken!
Anschließend ging er die einzelnen Schritte, die ihm in zirka sechsundsiebzig Minuten bevorstanden, noch einmal durch. So lange würde das Konzert vermutlich dauern – je nachdem, in welchen Tempi das Orchester die einzelnen Sätze spielte und wie lange die Pausen dazwischen währten.
David hatte sein Vorhaben zeitlich auf jenen Moment eingestellt, an dem das Moll-Thema aus dem ersten Satz in den jubelnden Es-Dur-Passagen des dritten Satzes wiederkehrt. Ein profanes Ende reichte ihm nicht; einen gewissen Stil sollte es schon haben. Er würde das mit der Batterie verbundene Zündkabel während der finalen Coda aktivieren, genau in dem Augenblick, wenn die letzten Noten des Monumentalwerkes verklangen. Die Stromzufuhr löste einen Kurzschluss aus; der ganze Apparat würde glühend heiß werden und explodieren. Wie eine durchgebrannte Glühbirne , so hatte es ihm ein führender Sicherheitsexperte erklärt, als David an einer Reportage über terroristische Taktiken während der zahlreichen Aufstände im Gazastreifen schrieb. Wie bei dem Lichtblitz, der seine Frau und seine Kinder, seine Eltern und Verwandten ausgelöscht hatte. Gedankenverloren berührte David die Drähte, als wären sie die üppigen, rabenschwarzen Haare seiner Frau. Und fast war ihm, als würde er den zitronigen Duft der Lotion riechen, die sie immer gegen die trockene Wüstenluft benutzte … benutzt hatte.
Mit einem Mal zuckte er zusammen und blickte sich alarmiert um. Er hatte etwas gehört. Ein Geräusch. Ganz nahe. Keine Musik, keine Ratten, keine menschliche Stimme. Es kam aus dem Luftschacht. Wieder hörte er es – ein Donnern wie von herabstürzenden Steinen. Oder wenn eine Mauer kippt. Dann fernes, gedämpftes Rufen. Ein Unglück? Oder eine Expedition? Die Fragen waren nebensächlich. Das Entscheidende waren die Antworten. Und die Antworten würde wohl nur die Zeit allein geben.
87. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 18:15 Uhr
“Sein Name ist Sebastian Otto!”, haspelte Meer, als könne sie durch möglichst hastiges Sprechen ihre Übelkeit loswerden. “Er hat uns eingesperrt und ist dann abgehauen. Bei aufgedrehtem Gashahn! Ich weiß, wo er ist … wo er hinwollte. Bestimmt zu seinem Sohn Nicolas in die Klinik am Steinhof. Sebastian glaubt, er kann dem Jungen helfen … und deshalb hat er meinen Vater umgebracht …” Bei jedem Wort kämpfte sie mit den Tränen, hätte ihnen am liebsten freien Lauf gelassen. Aber sie musste der Polizei ja die nötige Auskunft geben, damit man nach Sebastian fahnden und ihn verhaften konnte.
Während Inspektor Schmidt die Informationen per Funk an die Leitstelle weitergab, bat sein Kollege Krantz Meer in einen Einsatzwagen. Sie müsse, so seine Erklärung und Entschuldigung, noch mit zur Wache, wo man ihre Aussage zu Protokoll nehmen werde. Es sei leider nicht anders zu machen.
“Nein. Ich möchte ins Krankenhaus. Ich will bei meinem Vater sein!”
“Gut, meinetwegen”, gab der Polizist nach, wobei er den Motor anließ. “Dann suchen wir uns dort ein Plätzchen, wo wir uns unterhalten können.”
Inzwischen hatte Schmidt seine Meldung beendet und wandte sich an Meer. “Die Kollegen sind unterwegs zum Steinhof.”
“Haben wir eine Beschreibung von diesem Otto?”, fragte Krantz seinen Kollegen auf Englisch, als sie losfuhren.
Vom Rücksitz aus bemerkte Meer, wie Schmidts Hals etwas rot anlief. “Wären Sie so nett, Miss Logan?”
Sie tat den beiden den Gefallen. Kaum war sie mit der Beschreibung fertig, versuchte sie, das Gesicht ihres Vaters heraufzubeschwören. Nicht so, wie es auf der Krankentrage ausgesehen hatte – grau und starr –, sondern zu einem anderen Zeitpunkt. Etwa an einem x-beliebigen Tag in New York, wenn er ihr beim Lunch mal wieder von einer entdeckten Thorarolle berichtet hatte. Irgendwie bekam sie seine Züge jedoch nicht recht zusammen.
Sie schluckte ihre Ergriffenheit hinunter, beobachtete die Passanten. Der Regen hatte nachgelassen, doch die Bürgersteige waren noch nass, und die meisten Leute trugen Regenschirme. An einer Ecke schwatzten drei in Jeans gekleidete Halbstarke, alle mit Knopf im Ohr. Eine ältere Dame mit einer hellblauen Einkaufstüte schlenderte neben einer jungen Mutter mit Kinderwagen, an dessen Schiebebügel ein roter Luftballon zappelte. Es herrschte dichter
Weitere Kostenlose Bücher