Der Beethoven-Fluch
dauern!”
Ein Unbeteiligter hätte ihre Bemerkung vermutlich als Ausdruck von Mitgefühl aufgefasst, doch Malachai verstand sie genau so, wie sie gemeint war: als Vorwurf. Obwohl Beryl von seiner Unschuld felsenfest überzeugt war, nahm sie ihm doch übel, dass er sich zu sehr in die Jagd nach dem Schatz der verlorenen Erinnerung verstrickt und damit die Stiftung in Misskredit gebracht hatte. Der Verdacht, ihr Kompagnon könne ein Dieb und Mörder sein, hatte das über Jahre aufgebaute und sorgsam gepflegte Ansehen arg angekratzt.
“Es ist doch nicht dein Leben, das da umgekrempelt wird. Du brauchst ja nicht …”
Beryl krampfte die Finger um den Griff des Stockes. “Soll ich etwa Mitleid mit dir haben?”
“Ich habe meinen Reisepass abgegeben, meine persönlichen Unterlagen herausgerückt, meine Korrespondenz, meine Kontoauszüge, buchstäblich mein ganzes Privatleben offengelegt! Und zwar für Technokraten in schlecht sitzenden Anzügen und Polyesterhemden, für Typen, denen es einen Heidenspaß macht, mich durch die Mangel zu drehen.” Er stand auf, trat ans Fenster und streifte die schwere, seidene Übergardine beiseite. Ob eine von diesen Knalltüten wohl gerade in einem der unten abgestellten Autos hockte und ihn beobachtete? “Wird man observiert, hat man das Gefühl, als würde man permanent an der offenen Seele operiert.”
“Jetzt werd mal nicht melodramatisch!”
“Ich bin zwar auf dein Wohlwollen nicht mehr angewiesen, Tante Beryl, aber das heißt nicht, dass ich nicht doch dankbar wäre für ein wenig Unterstützung deinerseits.”
“Die hast du auch, das weißt du. Solange es nötig ist, sowohl privat als auch öffentlich. Eins kann ich allerdings nicht: so tun, als ob …”
Das Schrillen des Telefons unterbrach sie mitten im Satz. Im Display erkannte Malachai die Nummer von Jeremy Logan. “Entschuldige, aber ich warte schon den ganzen Tag auf diesen Anruf.”
Mit einem traurigen “Gute Nacht” verließ Beryl, auf ihren Stock gestützt, das Sprechzimmer. Wahrscheinlich, so dachte Malachai, war sie froh, dass sie sich verabschieden konnte. Er konnte es ihr nicht verübeln.
“Hast du dich mit Meer getroffen?”, fragte Jeremy aufgeregt, nachdem die beiden Freunde sich begrüßt hatten. “Wie hat sie reagiert?”
Malachai setzte ihn ins Bild.
“Hat sie sich sehr aufgeregt?”, wollte Jeremy wissen.
“Du weißt doch, wie gut deine Tochter ihre Gefühle im Griff hat.”
Wie viele Scheidungskinder hatte auch Meer ein gestörtes Verhältnis zu jenem Elternteil, dem sie das Scheitern der Ehe am meisten anlastete: ihrem Vater. Auch jetzt hörte Malachai wieder den zerknirschten Unterton, der immer dann in Jeremys Stimme mitschwang, wenn das Gespräch sich um seine Tochter drehte.
“Gibt ihre Musik auf, hängt ihr Studium an den Nagel, lässt sich dieses Museumsprojekt aufs Auge drücken – wozu?”, fragte Jeremy. “Sein ganzes Leben lang versucht das Mädchen nun schon zu beweisen, dass diese bruchstückhaften Erinnerungen an die Töne und die Schachtel bloß Pseudoerinnerungen sind. Und je heftiger sie abstreitet, dass …”
“Jeremy, so kann man das nicht sehen …”
“Und ich hatte gehofft, sie würde sich endlich von uns helfen lassen, wenn sie begreift, dass die Schatulle echt ist! Könnte es nicht therapeutische Wirkung haben, wenn Meer herkäme und sie mit eigenen Augen sehen würde?”
“Sicher, es könnte sich als Auslöser erweisen. Aber sie muss es auch bewusst wollen. Außerdem hat sie eine Ausrede: In einer Woche beginnt der Aufbau für eine ihrer Ausstellungen.”
“Dauernd schiebt sie ihre Arbeit vor!”
“Lass sie erst mal zur Besinnung kommen. Das Foto zu sehen war ein Schock für sie.”
“Das war’s für mich auch, als ich auf das Kästchen gestoßen bin! Und der Rest erst …”, betonte Jeremy. Nun berichtete er Malachai von dem sensationellen Brief, wonach die Schatulle mit Beethoven und der Flöte der untergegangenen Erinnerungen in Verbindung stand.
“Soll das heißen, es gibt die Flöte womöglich doch noch?”, fragte Malachai, nachdem er die ganze Geschichte gehört hatte. “Dass sie da ist, wo Beethoven sie versteckt hat?” Er war bemüht, möglichst unaufgeregt zu klingen. Nicht einmal sein alter Freund sollte merken, wie viel ihm diese Mitteilung bedeutete.
“Außergewöhnlich, nicht wahr? Ich bekomme Hinweise auf ein Musikinstrument, das angeblich Vorlebenserinnerungen auslöst – durch einen Brief, der in einer
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