Der Beethoven-Fluch
Entwicklung und brachten die ganze Familie durcheinander.
An dem betreffenden Nachmittag hatte sie mit ihrem Vater im Central Park Drachen steigen lassen. Ihr Windvogel schraubte sich höher in den Himmel, als sie es sich jemals hätte vorstellen können, doch dann türmten sich plötzlich Gewitterwolken am Horizont auf. Mit ihnen kam jene schrecklich-schöne Musik.
Meer ließ die Leine los und rannte wie von Furien gehetzt davon, ihr Vater immer hinter ihr her. Er brüllte, flehte sie an, doch stehen zu bleiben, hatte sie auch fast eingeholt und in Sicherheit gebracht. Er war nur noch eine Haaresbreite von ihr entfernt, als ein Radfahrer in vollem Tempo um eine Kurve gerast kam und nicht mehr bremsen konnte. Meer wurde durch die Wucht des Aufpralls in die Luft geschleudert und knallte mit dem Rücken auf am Wegesrand liegende Steinbrocken.
“Meer?” Leicht vornübergebeugt, riss Malachai sie aus ihren Gedanken. “Alles okay?”
“Als kleines Mädchen saß ich früher immer hier und grübelte über die anderen Kinder nach. Mein Vater meinte, die kämen hierher zu Ihnen, weil sie Hilfe brauchten. Ich stellte mir immer vor, wie die wohl auf genau diesem Stuhl hockten und die Uhr da drüben ticken hörten, und wie es ihnen dann besser ging, denn im Warteraum sah man die ja nie. Ich war überzeugt, dass Sie die alle geheilt hatten. Sie würden schon dafür sorgen, dass ich mich bald besser fühlte, dachte ich.”
Über Malachais Züge glitt jetzt so etwas wie Mitleid. Sein üblicher Gesichtsausdruck war Meer allerdings lieber: hochgezogene Augenbrauen, distanzierter Blick, ganz der objektive Beobachter. Mitgefühl war ihrer Meinung nach fehl am Platze, wenn sie sich wieder mal ihrem altbekannten Fluch ergab. Sie wusste ja, wie sie sich gegen einen Anfall wehren und sich eine einsetzende Episode vom Leib halten konnte. Sie kannte die Auslöser, vermied sie gewissenhaft. Und doch vernahm sie nun aufs Neue jene vertrauten, fernen Klänge … vage und verschwommen, von außerhalb dieses Zimmers, dieses Stadthauses, dieser Straße, dieser Stadt, von jenseits dieser Zeit. Sie spürte jene eisige Beklemmung, die ihr die Luft zum Atmen nahm, die schreckliche Wehmut, die ihr aus Trauer um einen Verlust die Tränen in die Augen trieb. Es war Jahre her, dass sie letztmals von diesen Dämonen heimgesucht worden war.
Die Hände um die Armlehne verkrampft, versuchte Meer, tief und gleichmäßig durchzuatmen und sich an der Gegenwart festzuklammern. Auf diese Heftigkeit war sie nicht gefasst gewesen. Jahrelange Therapie, zahllose Hypnosesitzungen und hochwissenschaftliche Theorien über Pseudoerinnerungen – all das erwies sich bisweilen als wirkungslos gegen jene rätselhafte Macht.
“Alles in Ordnung mit Ihnen?”
“Bestens”, murmelte sie. Sie wollte nicht zugeben – schon gar nicht vor sich selbst –, dass der Geist aus Kindertagen wieder aufgestiegen war, sodass ihr das Atmen schwerfiel. Die quälenden Beklemmungen, von denen sie früher heimgesucht worden war und die wie mit spitzen Klauen nach ihr griffen, um sie zu packen und in eine ferne Dimension zu entführen, sie ergriffen wieder von ihr Besitz.
Malachai drückte ihr ein Glas in die Hand. Erst als sie das Wasser trank, wurde ihr bewusst, dass sie Durst hatte, und dann konnte sie gar nicht genug trinken. Schließlich stellte sie das leere Glas neben dem Umschlag und der Zeichnung ab.
“Die Wirklichkeit ist jetzt”, leierte Malachai in vertrautem Tonfall herunter. “Die Wirklichkeit ist jetzt.”
Nickend konzentrierte Meer sich auf diesen Satz. Er gehörte zu jenen Formeln, die sie sich zurechtgelegt hatten, als sie noch ein kleines Mädchen war. Die Wirklichkeit ist jetzt. Die Wirklichkeit ist jetzt. Und auch jetzt benutzte sie dieses Mantra, um wieder zu Atem zu kommen. Kopfschüttelnd, als könne sie ihre Erinnerung so vertreiben, klatschte sie sich mit der Faust in die Handfläche. “Dabei habe ich doch kein Klavier mehr angerührt! Keine einzige Note zu Papier gebracht! Seit zwölf Jahren nicht mehr. Wieso reicht das denn nicht?”
“Sie gehen zu hart mit sich ins Gericht, Meer. Sie können ja nichts dafür. Wir kehren in dieses Leben zurück, um zu ergründen, was wir in einem früheren Leben nicht vollenden konnten. Wir mögen uns noch so sehr wünschen, wir hätten keine karmische Schuld abzutragen – letzten Endes müssen wir …”
Neben seinen diversen anderen Talenten beschäftigte Malachai sich auch mit Zauberkunststückchen. Er
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