Der Benedict Clan - Zwischen Hoffen und Bangen
war die beiläufige Art, in der er über Lainey gesprochen hatte, die mit einem Schulterzucken hingeworfene Tatsache, dass sie hätte sterben können. Sie hatte die Mütter der beiden toten Jugendlichen schon vorher verstanden, aber jetzt erfasste sie deren Schmerz und ihr Bedürfnis, sich zu rächen, mit solch einer primitiven Wucht, dass ihr eine glühende Hitze in den Kopf schoss und sie befürchtete, ihr könnte vor Hass das Herz in der Brust zerspringen. Clay neben ihr fluchte leise in sich hinein, während er wieder einen unauffälligen Schritt nach vorn machte.
„Genug jetzt“, erklärte Dr. Gower. „Ich habe keine Zeit mehr.“ Schnell schob er Lainey in seine rechte Armbeuge und drückte ihr das Skalpell noch ein wenig fester an den Hals, während er die andere Hand in seine Tasche schob und ein Nylonseil herauszog. „Janna, wären Sie vielleicht so freundlich, Ihren Liebhaber damit zu fesseln? Damit haben Sie ja inzwischen Erfahrung.“
Sie schaute auf Clay. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Küche und den Flur hinter dem Arzt und Lainey. Als er spürte, dass sie ihn anschaute, begegnete er ihrem Blick.
Einen Augenblick sahen sie sich wortlos an. Schließlich meinte Clay ruhig: „Tu was er sagt. Es ist egal.“
„Warum? Du bist stärker als er und die größere Bedrohung. Wenn ich dich fessle, wird es ihm leichter fallen, uns allen die Kehle durchzuschneiden.“
„Warum?“ wiederholte der Arzt ihre Frage. „Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil Ihnen nichts wichtiger ist als das Leben Ihrer Tochter.“
Jannas Augen funkelten, als sie sich wieder zu ihm umdrehte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Lainey am Leben lassen, nachdem sie zugesehen hat, wie sie uns beide umbringen. Wir könnten Sie doch einen anderen Weg suchen lassen.“
„Das können Sie, wenn Sie vorher bei einer Organentnahme zuschauen möchten.“
„Nein!“ rief Janna, gepackt von eisigem Entsetzen. „Nein!“
„Tu was er sagt, Janna“, befahl Clay mit tonloser Stimme.
Was hatte sie für eine Wahl? Sie trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach dem Nylonseil aus, das der Arzt ihr immer noch hinhielt.
Während sie es entgegennahm, tauchte hinter dem Arzt auf dem Flur ein Schatten auf. Er bewegte sich in ihre Richtung, und gleich darauf erschien Alligator Arty im Türrahmen. Die Klinge des Messers in seiner Hand blitzte im Licht stahlblau auf. Er war nah, so nah. Und doch nicht nah genug, um sich auf den Arzt stürzen zu können, ohne Lainey in Gefahr zu bringen.
In diesem Augenblick hörte Gower offenbar ein Geräusch, oder vielleicht erhaschte er auch aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Jedenfalls riss er den Kopf herum.
Was darauf folgte, war ein Wirbel aus Formen, Bewegungen und Farben. Nicht angetrieben von einem Gedanken oder Plan, sondern einzig vom Mut der Verzweiflung.
Janna schlug Gower das Plastikseil, das sie in der Hand hielt, mit aller Kraft quer übers Gesicht. Er ließ Lainey los, als er zurücktaumelte und sich mit einem Aufstöhnen die Hand über die Augen legte. In diesem Moment warf sich Clay mit der Schulter gegen ihn, riss das Kind an sich und legte schützend die Arme um sie. Fluchend holte der Arzt aus und zog ihm das Skalpell über den Rücken. Auf der Stelle färbte sich Clays Hemd rot, und sein scharf eingezogener Atem entwich ihm zischend durch die Zähne. Er wirbelte mit Lainey, die er fest umschlungen hielt, außer Reichweite, prallte dabei mit Janna zusammen, und die drei stürzten zu Boden.
Und dann war Arty da, der dem Arzt von hinten einen starken Arm um den Hals schlang und ihm sein Jagdmesser an die Kehle setzte. „Halts Maul, du Scheißkerl“, knurrte er. „Du brauchst bloß ’n kleinen Finger krumm zu machen, dann stech ich dich ab wie ’ne Bisamratte.“
Lainey weinte laut. Janna zog sie an sich und suchte ihren Körper ängstlich nach Spuren irgendeiner Verletzung ab. Doch dafür blieb ihr kaum mehr als eine Sekunde, dann schlang ihr die Kleine die Arme um den Hals und presste sich, immer noch schluchzend, an sie. Janna hielt sie fest und wiegte sie tröstend in den Armen, wobei sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass sich Clay, dessen Hemd auf dem Rücken inzwischen blutdurchtränkt war, mühsam aufrappelte.
Er drehte sich zu Arty und dessen Gefangenem um. Das bronzefarbene Gesicht des alten Mannes war ausdruckslos wie eine Totenmaske, die Muskelstränge an dem Arm, mit dem er Gower festhielt, traten hervor wie dicke Seile. Der Arzt wimmerte
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