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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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besänftigen. Nichts stimmte mehr in meiner Umgebung. Wo waren die beiden farbenprächtigen Wandteppiche, die die Wände schmückten, wo die dunkle, geschnitzte Truhe mit meinen Kleidern? Wo war der hohe Kerzenständer mit der Stundenkerze, die Waschschüssel und der Keramikkrug mit demblauen Blumenmuster? Warum fiel nicht das Morgenlicht durch die runden, bleigefassten Glasscheiben des Fensters? Es fehlte das Lesepult mit dem ledergebundenen Folianten, es fehlte das rote Kleid, das ich gestern getragen hatte. Verwirrt sog ich den fremden Geruch ein, der in dem Zimmer herrschte. Warum roch es nicht nach den Holzfeuern der Kamine, dem Duft von warmem Brot, wo war der Hauch von Lavendel, der gewöhnlich all meine Wäsche durchtränkte? Auch die Geräusche stimmten nicht. Keine Glocke rief zum Gebet, kein Karren rumpelte draußen in den Hof, keine Taube gurrte auf dem Giebel.
    Ich zwinkerte. Das Bett war ein Bett, richtig. Aber warum war die Decke so fleckenlos weiß? Und das Hemd, das ich trug? Lieber Gott, ein weißes Hemd, ein Totenhemd? Hatte man mich schon aufgebahrt? Ein Strauß weißer Rosen stand neben mir. Ja, ich musste tot sein. Gestorben – aber warum? Was war geschehen? Welche übergroße Sünde hatte ich auf mich geladen, dass ich einen so unerwarteten Tod gestorben war? Ich versuchte mich zu erinnern – und da war es plötzlich wieder! Der Mann in Schwarz, das klingende Gold, der kleine Schmerz, das wenige Blut und das erschütternde Erlebnis der körperlichen Lust. War es Sünde, sie empfunden zu haben? Heilige Anna, Mutter Mariens – war es Sünde? Oder war es die viel größere Sünde, meine Hoffnungen preiszugeben?
    Und nun war ich gestorben. Was würde folgen? Würde die Erde sich auftun und ich zur Hölle fahren? Würde ich Vergebung finden und ein Engel mich zum Himmelstor geleiten? Oder wartete zuvor das läuternde Fegefeuer auf mich?
    Ich sprach meine Gebete, inbrünstig wie noch nie zuvor, und siehe, es kam ein Engel hernieder. In reines Weißgekleidet, geschmückt mit silbernen Ketten, golden leuchtete sein Haar, und er sprach in engelischer Sprache zu mir. In der Rechten hielt er die sieben Sterne. Sie glitzerten bösartig in dem grellen Licht, das mich umgab. Aber es waren keine Sterne, o nein...
    Was hielt er da nur?
    Das war auch kein Engel!
    Er piekte mich!
    Ja, sahen denn die Dämonen der Finsternis aus wie die Engel des Herrn?
    Schwärze sank über mich. Doch bevor es endgültig dunkel um mich wurde, zogen in schneller Folge drei erschreckende Höllenszenen vor meinem inneren Auge vorbei – ein Dorf in Flammen, eine lodernde Holzscheune und das Auseinanderbersten eines fest gemauerten Gebäudes.
    Das allerletzte Bild aber war ein unendlich vertrautes Gesicht, das sich über mich beugte.

5. Kapitel
 
 Anna
    Als Anna das nächste Mal aufwachte, war dem Himmel sei Dank alles wieder in seiner richtigen Ordnung. Die Kammer unter dem Schindeldach des schmalen Häuschens am Kattenbug, dem Katzenbauch, die sie nach dem Tod ihrer Mutter bezogen hatte, war geräumig, an den weiß gekalkten Wänden hingen die beiden Wandteppiche, die sie so sehr geliebt hatte. Eingefasst war der eine von Blumenranken, Schmetterlinge tanzten um die Blüten, zwischen frühlingsgrünem Laub tummelten sich Eichhörnchen, und bunt gefiederte Vögel zwitscherten mit aufgerissenen Schnäbeln ihr Lied auf den Ästen. Das Bild in der Mitte stellte den paradiesischen Garten dar, Adam und Eva unter Früchte tragenden Bäumen, auf blumenbesätem Rasen, in trauter Einheit mit den scheuen und wilden Tieren. Den anderen aber umgaben Dornenranken, schwarzgrünes Laubwerk verbarg nur halb die dämonischen Gestalten und weißen Totenköpfe, die sich dahinter versteckten. Gelbrotes Höllenfeuer brannte in der Bildmitte, und schwarz ragten daraus die Gerippe der Toten hervor. Obwohl es eine grausige Vision hätte sein können, hatte Anna selbst diesen Wandteppich von klein auf als schön empfunden und sich an den kräftigen Farben und Kontrasten erfreut.
    Das Licht des Morgens fiel durch das Butzenglas-Fenster und malte farbige Ringe auf die hell gescheuerten Holzbohlen des Bodens. Von draußen klangen die Rufe der Straßenhändler herein, das Schimpfen eines Fuhrknechts,das Gezeter zweier Frauen, Kinderlachen und Ochsengebrüll. Anna streckte sich wohlig unter dem weichen, dicken Federbett und blinzelte in die Helligkeit. Ihr Blick blieb an der leuchtend roten Farblache hängen, die sich über die schwarze Holztruhe ergoss.

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