Der Bernsteinring: Roman
betrachtete Hrabanus Valens das junge Mädchen, das seinem Blick jetzt mit klaren Augen begegnete.
»Du kennst dich in der Lehre der vier Säfte aus?« »Natürlich, Herr. Bestimmen sie nicht unser Leben?« »Nicht nur, Kind, nicht nur.«
»Nein, nicht wahr! Auch die Gestirne haben einen Einfluss auf das Schicksal!«, antwortete sie eifrig.
»Die Kunst der Astrologie ist dir also auch nicht fremd. Und wie, mein liebes Kind, sieht es mit dem Einfluss des Herrn, unseres Gottes auf dein Leben aus?«
»Ich befinde mich in Seiner Hand, Herr, und bin abhängig von Seiner Gnade.«
Wieder waren die Lider über blitzenden Augen gesenkt, und ein kleiner Muskel zuckte in ihrem Mundwinkel.
»Und dienst ihm geduldig, mit Hingabe und voller Demut, hoffe ich. Oder fühlst du dich Ihm nicht sonderlich verpflichtet?«
»Nun, Er hat mir mein Leben geschenkt. Dafür werde ich Ihm schon gebührend verpflichtet sein.«
»Der Herr wird’s dir danken.«
Anna sah ein Lächeln unter seinem vollen, schwarzen Bart. Es war kein fröhliches Lächeln, und sie wunderte sich, warum ihm ihre Bemerkung einen solchen zynischen Ausdruck hervorrief.
»Entschuldigt, ich bin wieder vorwitzig gewesen. Ich will mich um Besserung bemühen. Mögt Ihr nicht einen von diesen Kuchen probieren? Sie sind mit getrockneten Aprikosen und Honig gefüllt.«
»Danke, Kind. Nein, iss die Süßigkeiten selbst, ich mache mir nichts daraus. Und nun sage mir, wovon du neben der Säftelehre und der Astrologie noch etwas verstehst. Vom Backen vielleicht?«
Anna kicherte leise.
»Nein, Herr, das will mir nicht recht von der Hand. Ich bin geschickter mit dem Silberstift und der Feder. Ich beherrsche ein wenig das Lautespiel und die lateinische Sprache. Ich habe die Bibel gelesen und die Werke des heiligen Albertus Magnus, die Schriften des Hippokrates und den Almagest des Ptolemäus.«
»Eine wunderliche Mischung. Aber füge noch die ins Lateinische übersetzten Schriften des Abu Massar al-Balchi hinzu und die des Muhamad ibn al-Hasan, genannt Albohasan Haly, dann rundest du dein astrologisches Wissen recht ordentlich ab.«
»So kennt Ihr diese Werke? Besitzt Ihr sie? Darf ich sie einsehen?«
Hrabanus Valens lachte schallend auf.
»Anna, ich mag mich in dir getäuscht haben, deinTemperament ist sanguinisch, aber du hast auch ein glühendes Feuer in dir. Ist dein Latein wirklich gut genug, um diese Texte lesen zu können?«
»Ich bemühe mich darum, Herr, denn das Wissen um das Wesen der Welt hat mich in seinen Bann geschlagen.«
Nachdenklich strich sich der Handelsherr plötzlich über seinen Bart und sah an ihr vorbei. Anna beobachtete ihn und schwieg. Irgendetwas hatte sie gesagt, das ihn zu einer Entscheidung gebracht hatte. Wenn sie auch nicht wusste, was es war, so war sie doch nicht unzufrieden. Der Mann, der sich, aus welchen Gründen auch immer, bereit erklärte, ihr zu helfen, aus dem Leben der gesellschaftlichen Außenseiter herauszukommen, mochte hässlich sein und von Narben gezeichnet. Aber er hatte einen schnellen Verstand und schien nicht unangenehm berührt davon zu sein, dass sie sich mit den Wissenschaften abgab, die, wie sie sehr wohl wusste, eine Domäne der Männer waren.
»Sprichst du das Lateinische so gut wie du es liest?«, fragte er sie in eben dieser Sprache. Und sie antwortete ihm fließend und fehlerfrei: »Ja, Dominus, ich übe mich nicht nur im Lesen, sondern auch im gesprochenen Latein. Nicht nur in den Psaltern und Evangelien, sondern auch in der Konversation. Meine Lehrer haben darauf stets geachtet. Auch wenn sie meinen Ehrgeiz für ein Weib für unnütz halten.«
»Nun, es mag nützlich sein, Anna. Das Stift, das zu Sankt Maria im Kapitol gehört, nimmt nur adlige Damen auf. Und so müssen wir aus dir eine junge Adelsfrau machen. Bist du bereit, bei einer kleinen Scharade mitzuspielen?«
»Ich kann mich nicht gut verstellen, Herr.«
»Auch wenn es darum geht, dir deinen Herzenswunsch zu erfüllen?«
»Dann wird es wohl gehen müssen. Was wollt Ihr, das ich tue?«
»Du sollst dich in die ehrenwerte Anna di Nezza verwandeln, die junge italienische Adlige, mit deren Vater ich in freundschaftlichen Beziehungen stand. Aber bedauerlicher Weise erlag er auf unserer gemeinsamen Reise von Neapel nach Köln im März einer tödlichen Krankheit. An seinem Sterbebett habe ich ihm geschworen, mich um seine verwaiste Tochter zu kümmern. Sie wohnt derzeit in meinem Haus, doch das weltliche Leben sagt ihr nicht zu. Darum bitte ich
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