Der Bernsteinring: Roman
haubenbedeckten Mägden Bier ausschenkte und Speckbrote verteilte. Ihr mondrundes Gesicht strahlte mütterliche Heiterkeit aus, sie steckte einem abgerissenen Gassenkind eine Extraportion zu. Vor der Schenke war eine blonde Frau in einem blauen Kleid ausgerutscht und im Misthaufen gelandet, ein Bettler an Krücken lachte sie aus. Am linken Bildrand stand in ihre schwarze Tracht gewandet eine Kanonisse und beobachtete das Treiben, ohne dass man ihr Gesicht unter dem Schleier erkennen konnte.
Rose strich darüber und meinte: »Ja, dieses Bild hat die Erinnerung an die Szene in mir geweckt, die Julian mir einmal geschildert hat. Der Henker oder Scharfrichter, der nicht berührt werden darf. Er hat selbst in der Kneipe seinen eigenen Platz und seinen eigenen Becher. Man hatte Angst davor, durch die Berührung mit ihm ebenfalls unrein zu werden.«
»Unehrlich, nicht unbedingt unrein. Aber es läuft im Grunde auf dasselbe hinaus.«
»Wieso unehrlich? Ich meine, wegen Lügen und so?«, wollte Cilly wissen.
»Nein, als Unehrliche, also nicht ehrbare Leute,galten grob gesagt zu jener Zeit alle die, die mit Tod, Verwesung oder anderen schmutzigen Arbeiten zu tun hatten. Der Henker flößte den Menschen Grauen ein.«
»Aber die Dirnen grauten sich nicht vor ihm.«
»Nein, die Dirnen unterstanden dem Henker. Sie mussten ihm eine Gebühr entrichten, und er hat ihnen dafür Berechtigungszeichen ausgestellt. Es war möglicherweise auch ein Schutz damit verbunden. Die Dirnen galten ebenfalls als unehrlich, genau wie alle unehelich geborenen Kinder.«
»Wie Rose, die unehrliche Haut!«, kicherte Cilly. »Die unehrliche Haut ist jetzt ehrlich müde und haut sich in die Falle.«
Wir vertagten uns auf das Wochenende, und bis zum darauf folgenden Samstag hatte ich zwar nur entmutigende Nachrichten vom Straßenverkehrsamt erhalten, aber genug Stoff, um für stundenlange Unterhaltung zu sorgen. Bevor ich mit meiner Geschichte anfing, breitete ich alle die Blätter, die der Vesper, dem Abendgebet zugeordnet waren, vor mir aus. Das erste zeigte eine Mondlandschaft mit Weiden, die ihre langen Zweige in stilles, silbern schimmerndes Wasser tauchten. Doch nicht nur ein Mond war abgebildet, sondern er war in allen vier Phasen zu sehen, die zu- und abnehmende Sichel, ganz fein zwischen dem der schwarzen Scheibe des Neumonds und der leuchtenden des vollen Mondes. Darunter stand der Text aus der Schöpfungsgeschichte: »So machte Gott dann die beiden großen Leuchten: die größere, dass sie den Tag beherrsche, die kleinere zur Beherrschung der Nacht und dazu die Sterne.« Wunderbares Rankwerk aus Weidenblättern umgab die Miniatur, deren überwiegende Farben Silber, Schwarz und Blau waren und eine verträumte Stimmung ausstrahlte.
Dann folgten die Schenkenszene und die Szene in der Kammer, aber das vierte und letzte Bild der Vesper war ganz anders als die erzählenden Miniaturen. Es zeigte das Bild einer Frau in einem Kranz von Sternen. Wieder hatte sie ein rundes Gesicht, doch diesmal war eine Seite hell, die andere schattig, wie der Mond in seiner abnehmenden Phase. »Er schuf Mond und Sterne zur Herrschaft bei Nacht; denn ewig währt seine Huld.« Psalm 136 wurde hier zitiert.
»Meine Lieben, begeben wir uns in das Jahr des Herren 1486. Anna Dennes, Tochter einer Buhle und eines unbekannten Vaters, jetzt genannt Anna di Nezza, tritt in den hochadligen Stift von Sankt Maria im Kapitol ein. Hört, geneigtes Publikum, wie es dazu kam!«
9. Kapitel
Besuch des hohen Herren
Am Morgen nach dem Besuch des unbekannten Freiers musste Anna also ihrer Amme Horsel Rede und Antwort stehen. Es war die unerquicklichste Unterhaltung, die die beiden je miteinander geführt hatten. Horsel bestand darauf, das Geld ausgehändigt zu bekommen, das der Mann ihr gegeben hatte, und Anna, ganz unerwartet störrisch, beharrte darauf, es für sich zu behalten, um sich damit den Eintritt in einen Beginen-Konvent zu erkaufen.
»Die werden dich nicht nehmen, Anna. Mach dir keine Hoffnung.«
»Sie kümmern sich doch um die Gassenkinder, das Bettelvolk und die Irrwitzigen, sogar um die Dirnen und die Baderhuren. Warum nicht auch um mich?«
»Sich um die Siechen und die Armen in gottgefälliger Form zu kümmern ist das eine, aufnehmen werden sie solche wie dich nie!«
»Woher willst du das wissen? Ich werde es auf jeden Fall versuchen. Es gibt am Eigelstein einen Konvent, der nicht so vornehm ist. Es sind einfache Frauen, die ihrem Handwerk nachgehen,
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