Der Bernsteinring: Roman
auch nicht die Feenkönigin. Natürlich kenne ich das Gedicht. Es wurde von Carl Loewe vertont, Julian hat es mir manchmal vorgesungen.«
»Mir auch, Anita!«
»Es passte ihm wohl sehr gut in die Geschichte von Anna und Rosa. Möglicherweise hat ihn dieses Bild auf die Idee gebracht.«
Ich legte die Seiten aus dem Stundenbuch vor uns aufden Tisch. Die grün gewandte Reiterin, die Spielmannsszene und den Sonnenaufgang. Umrandet waren sie von Haselzweigen. Bei dem letzten Bild trugen sie wie im Frühling gelbe Kätzchen, im zweiten waren sie belaubt und im dritten trugen sie braune Nüsse in ihren grünen Krönchen.
»Die Ornamente in den Rahmen aller anderen Kapitel sind erheblich kunstreicher gearbeitet als die der Vesper, seht ihr? Ich denke, wir können mit gutem Grund annehmen, dass zwei Personen an der Gestaltung gearbeitet haben. Denn die erzählenden Szenen und die Schrift-Einfügungen sind von gleich bleibender Qualität.«
Wir hatten unser drittes Wochenende miteinander verlebt und immerhin eine gewisse Ordnung in einen Teil der Bilder gebracht.
»Und es ist eindeutig so, dass unser Vater seine Geschichte entlang dieser Szenen gestrickt hat.«
Ich stimmte Rose zu, und wir legten die Blätter in die Reihenfolge, die sich aus der Erzählung ergab. Ein System war aber auch darin nicht zu erkennen.
»Sehr rätselhaft!«
»Sehr. Aber wir haben einen gewissen Wiedererkennungswert in den Figuren der Geschichte, findest du nicht?«
»Wir haben Anna und Rosa.«
»Aber ich bin noch nicht dabei«, meinte Cilly betrübt. »Keine Gratia oder Valeria oder so was.«
»Kommt schon noch. Dafür ist der Sänger wieder von der Partie. Diesmal als Julius Cullmann, alias Julian Kaiser.«
»Ja, und meine Rosa ist in ihn verliebt. Das kommt dem Inzest ziemlich nahe, was?«
»Wer weiß, ob sie ihn kriegt.«
»Und die Ursa oder Uschi ist sogar zweimal dabei, einmal als Bärenmutter und als Schenkenwirtin, was ziemlich irritierend ist.«
»Dafür ist dieser Hrabanus Valens eindeutig dein Valerius«, sagte Rose. »Und verheiratet mit einer Natternzunge namens Berlindis. Du solltest noch mal diese reizende Verkäuferin in dem Antiquitätengeschäft aufsuchen. Vielleicht ist sie ja doch seine Frau.«
»Verkäuferin ist übrigens gut. Die Dame aus dem Juwelierladen hat sich gemeldet.«
»Oooch, erzähl. Kennt sie ihn?«
Ich hatte Cillys Vorschlag, den Juwelier noch einmal aufzusuchen, bei dem ich Valerius getroffen hatte, natürlich sofort in die Tat umgesetzt. Es ließ sich viel versprechend an.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, hatte mich eine der Verkäuferinnen gefragt.
»Mein Name ist Anita Kaiser. Ich habe bei Ihnen im Laden vor ungefähr drei Wochen einen Mann wieder getroffen, der mir sehr viel bedeutet. Und dummerweise ist er mir kurz darauf verloren gegangen.«
Die Dame hatte Humor. Sie fragte: »War er ein so hochkarätiges Exemplar, dass Sie bei uns nachfragen?«
»Außerordentlich hochkarätig. Eventuell gibt es jemanden von Ihrem Verkaufspersonal, der sich an ihn erinnert? Er hat seine Uhr abgegeben, die stehen geblieben war.«
Ich musste wohl ziemlich jämmerlich ausgesehen haben, denn sie rief alle Anwesenden zusammen, um sie zu befragen. Möglicherweise war es auch nur eine willkommene Abwechslung, denn montags morgens um zehn herrschte wenig Betrieb. Ein junger Mann unter ihnen konnte sich in der Tat genau an die Situation erinnern. Mein Gesicht hatte Eindruck hinterlassen. DieTatsache, dass ich beinahe in dem Laden sang- und klanglos umgekippt wäre, ebenfalls. Ja, er entsann sich sogar, dass der Herr mit dem dunklen, grau durchzogenen Bart seine Uhr, ein recht wertvolles Stück, abgegeben hatte.
»Hat er sie inzwischen abgeholt?«, wollte ich wissen.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber wenn Sie mir den Namen des Herren nennen, werde ich versuchen, Ihnen behilflich zu sein.«
»Das ist ja genau mein Problem. Ich kenne nur seinen Vornamen. Zumindest ist er etwas ungewöhnlich, er heißt Valerius. Hat er jemandem von Ihnen seinen vollen Namen genannt?«
»An dem Tag hat Frau Berger ihn, glaube ich, bedient. Und die ist seit Freitag in Urlaub. Sie kommt erst in drei Wochen zurück.«
»Oh, mh. Könnten Sie wohl nachsehen, ob er irgendetwas unterschrieben hat – einen Abholzettel, eine Rechnung, einen Kartenbeleg?«
Sie waren wirklich alle sehr hilfsbereit und suchten die Daten des achten Januar heraus, aber an diesem Tag gab es keinen Beleg, den ein Valerius, dessen Nachname mit C
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