Der Bernsteinring: Roman
Wochen später erhalten hatte. Schreiben und Schmuckstück erinnerten mich an die vielen kleinen Geschichten, Episoden und Erzählungen, die er oft zu meiner Unterhaltung gesponnen hatte. Auch Rose hatte er ähnliche Geschichten erzählt. Als wir uns zusammensetzten, um sie miteinander zu vergleichen, schlossen sie sich plötzlich wie Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammen. Die Geschichte erzählte von Annik, der gallischen Töpferin und Ulpia Rosina, der römischen Patrizierin, die im ersten nachchristlichen Jahrhundert in der Nähe der Colonia, dem heutigen Köln, lebten. Es war eine lebendige Schilderung der römischen Zeit, die Julian uns hinterlassen hatte. Sie handelte von Verrat und Mord, von Freundschaft und Seitensprung, vor allem aber handelte sie von – Valerius. Titus Valerius, der der Rabe – Corvus – genannt wurde und eine Narbe im Gesicht trug. Er und Annik fanden einander und verloren sich wieder in einem entsetzlichen Inferno.
Während wir uns die Geschichten erzählten und sie dabei gleichzeitig aufschrieben, büßte ich allmählich die Distanz zu dem Geschehen ein. Und darum war ichin dem Augenblick, als ich jenen Fremden traf, der das Gesicht dieses Römers aus meinen Träumen trug, so sicher, Valerius getroffen zu haben. Der Zufall wollte es, dass dieser Fremde wirklich Valerius hieß. Mich hatte es erschüttert.
Rose und Cilly auch.
»Ich bin für heute hier fertig, Anita. Cilly hat mich gestern Abend schon bis aufs Blut gepeinigt, ob du heute kommst und das Buch mitbringst.«
»Dann wollen wir zu dir fahren und das arme Kind nicht länger im Ungewissen lassen. Ich habe es dabei!«
Roses Mutter hatte meinem Vater Julian natürlich nicht ihr Leben lang nachgetrauert, auch wenn sie einst wohl heftig in den jungen, erfolgreichen Schlagersänger verliebt war, der er vor neunundzwanzig Jahren war. Sie hatte fünf Jahre nach Roses Geburt geheiratet und lebte noch immer glücklich mit ihrem jetzigen Mann zusammen. Beider Tochter war die vierzehnjährige Cilly, die sich auf unnachahmliche Weise mit in unsere schwesterliche Freundschaft eingeschlichen hatte. Ihr war es zu verdanken, dass die Geschichte aus der Römerzeit jetzt schriftlich fixiert war.
Cilly erwartete uns schon in der Wohnung. Etwas größer als Rose, schlaksig, mit glatten Haaren, die heute wie zwei silbrig-blonde Rasierpinsel rechts und links über den Ohren abstanden, und einem Gesicht, das einmal eher apart als hübsch sein würde, versprühte sie überschäumende Neugierde und eine schalkhafte Intelligenz. Manchmal war sie ein wenig schwer zu ertragen in ihrer Intensität, aber wenn es hart auf hart ging, vertrug sie auch schon mal einen herben Hinweis darauf, endlich die Klappe zu halten.
»Ich hab’ euch Kaffee gemacht. Und deine Lieblingspralinen mitgebracht, Rose! Hast du es dabei, Anita?«
»Ja, ja, ja!«
»Zeig!«
»Darf ich erst einmal die Jacke ausziehen?«
»Kannst es mir ja trotzdem schon mal geben!« »Beruhige dich, du bekommst es noch früh genug in die Finger.«
Ein springender Gummiball war geradezu ein Ausbund von Gleichmut gegen sie.
Sie hatte Tassen und Kaffeekanne auf den Tisch gestellt und eine von Roses Glasschalen mit Kirschpralinen gefüllt.
»Du bist mein Verderben, Cilly«, stöhnte Rose und nahm sich eine. »Ich wollte nach den Feiertagen ein paar Kilo abnehmen.«
»Dann lass sie doch stehen!«, schlug ich vor. »Kann ich nicht, ich bin süchtig danach.«
»Das musst du von unserem Vater haben, der war süchtig nach Bonbons. Pfefferminze mit Vorliebe!«
»Ich weiß. Er sagte regelmäßig, sie seien gut für seine Stimme.«
»Und ich habe ihm, wann immer ich konnte, von unterwegs welche geschickt. In möglichst originellen Verpackungen oder Formen. Er hat sich darüber gefreut, aber am liebsten glaube ich, mochte er die, die Uschi selbst hergestellt hat.«
»Kann sie das? Ich wüsste gar nicht, wie man das macht!«
»Sie hat in ihrer sündigen Jugend nicht nur getanzt, sondern auch eine Konditorlehre gemacht. Ihre Geburtstagskuchen waren legendär!«
Ich öffnete meine Dokumentenmappe und holte das eingewickelte Päckchen heraus.
»So, das ist es. Nicht das Original natürlich, sondern nur die Fotos der Seiten. Es hat auch nicht Faksimile-Qualität,die Goldverzierungen müsst ihr euch also denken. Aber man kann es lesen und die Bilder ganz ausgezeichnet erkennen. Tommy hat gute Arbeit geleistet.«
»Wer ist Tommy?« fragte Cilly, die seit neuestem hochgradig an Männern
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