Gohar der Bettler
Gohar war jetzt wach; er hatte gerade geträumt, daß er ertrinken würde. Er richtete sich auf einem Ellbogen auf und schaute sich mit unsicherem Blick, noch benommen vom Schlaf, um. Er träumte nicht mehr, die Realität jedoch ähnelte seinem Traum so sehr, daß er einen Moment lang unschlüssig verharrte, obwohl ihm bewußt war, daß ihm eine Gefahr drohte. »Bei Allah! Hochwasser!« dachte er. »Der Fluß wird alles wegschwemmen.« Angesichts der drohenden Katastrophe machte er aber keine Anstalten zu fliehen; er klammerte sich im Gegenteil am Schlaf fest wie ein Schiffbrüchiger an einem Wrack und schloß die Augen.
Er brauchte lange, um wieder zu sich zu kommen, wollte sich die Augen reiben, unterließ es aber gleich wieder: seine Hände waren feucht und glitschig. Er schlief vollkommen angezogen auf einem Lager aus kleinen Haufen alter Zeitungen auf dem nackten Fußboden. Das Wasser hatte alles überschwemmt und bedeckte beinahe den gesamten Boden des Zimmers, der mit Steinfliesen ausgelegt war. Es floß lautlos auf ihn zu, mit der beklemmenden Unabwendbarkeit eines Alptraums. Gohar hatte das Gefühl, sich auf einer von Fluten umgebenen Insel zu befinden, und er wagte nicht, sich zu bewegen. Die unerklärliche Gegenwart dieses Wassers tauchte ihn in tiefes Erstaunen. Dennoch nahm sein anfänglicher Schrecken in dem Maße ab, in dem er sich der Realität wieder bewußt wurde. Jetzt begriff er, daß seine Vorstellung vom hochwasserführenden Fluß, der auf seinem Weg alles verwüstet, lediglich einer Verwirrung des Geistes entsprang. Er versuchte also herauszufinden, woher dieses geheimnisvolle Wasser kam, und entdeckte sehr schnell seine Quelle: es sickerte unter der Tür der Nachbarwohnung hindurch.
Gohar zitterte wie unter dem Eindruck eines unsagbaren Grauens: der Kälte. Er versuchte aufzustehen, aber der Schlaf steckte noch in ihm und machte seine Gliedmaßen taub, hielt ihn mit unlösbaren Banden zurück. Er fühlte sich schwach und hilflos. Er trocknete seine Hände an den Stellen seiner Jacke ab, an denen der Stoff nicht feucht war; jetzt konnte er sich die Augen reiben. Dies tat er ganz ruhig, sah auf die Tür der Nachbarwohnung und dachte: »Sie reinigen bestimmt gerade die Steinfußböden. Trotzdem hätten sie mich beinahe ertränkt!« Die unvermutete Reinlichkeit seiner Nachbarn erschien ihm überaus verwunderlich und empörend. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. In diesem verfallenen und dreckigen Haus des Alten Viertels, das von armen, ausgehungerten Kreaturen bewohnt wurde, reinigte man niemals die Steinfußböden. Bestimmt waren diese Leute neue Mieter, boshafte Menschen, die im Viertel Eindruck schinden wollten.
Gohar war immer noch verblüfft, so als hätte ihn die Entdeckung dieser unsinnigen Reinlichkeit betäubt. Ihm schien, es müsse etwas unternommen werden, um dieser Überschwemmung Herr zu werden. Aber was? Am besten wartete man einfach ab; sicher würde ein Wunder geschehen. Diese absurde Situation erforderte eine Lösung durch übernatürliche Kräfte. Gohar fühlte sich da ganz und gar machtlos. Er wartete einige Minuten, aber nichts geschah, keine geheime Macht kam ihm zu Hilfe. Schließlich erhob er sich und blieb regungslos stehen, in der Haltung eines Menschen, der an Halluzinationen leidet, wie ein geretteter Schiffbrüchiger; dann bewegte er sich ungemein vorsichtig über den aufgeweichten Boden und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand. Außer diesem Stuhl gab es nur noch eine umgedrehte Holzkiste, auf der ein Spirituskocher, eine Kaffeekanne und ein Tonkrug mit Trinkwasser thronten. Gohar lebte in äußerst bescheidenen materiellen Verhältnissen. Die Vorstellung des elementarsten Komforts war seit langem aus seinem Gedächtnis getilgt. Er verabscheute es, sich mit Gegenständen zu umgeben; Gegenstände trugen die verborgenen Keime des Elends in sich, und zwar des schlimmsten von allen, des leblosen Elends; desjenigen Elends, das durch seine hoffnungslose Gegenwart unweigerlich Schwermut hervorruft. Nicht daß er für die äußeren Erscheinungsformen des Elends empfänglich gewesen wäre; ihnen maß er keinerlei tatsächlichen Wert bei, sie blieben für ihn immer abstrakt. Er wollte seinen Blick einfach vor einem deprimierenden Durcheinander bewahren. Für Gohar besaß die Ärmlichkeit dieses Zimmers die Schönheit des Unfaßbaren, in ihm atmete er eine Luft des Optimismus und der Freiheit. Die meisten Möbel und Gebrauchsgegenstände kränkten seinen
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