Der Bernsteinring: Roman
warmes Wasser, selbst in den Kammern der Kanonissen standen Kohlepfannen, deren Glut verhinderte, dass sich des Nachts der Raureif auf den Decken und Laken niederschlug. Dennoch litt Dionysia unter der Kälte. Ihre Finger schmerzten stärker als sonst, und Anna übernahm es mehr und mehr, die zierlichen Ranken um Initialen zu zeichnen und in akkuraten Buchstaben ausgewählte Textstellen aus den Evangelien abzuschreiben. Als die Tage wieder länger wurden und die Sonne wärmend in den Innenhof des Kreuzgangs schien, wagte sie erstmals, ihre Lehrerin um ein paar Lagen des kostbaren Pergamentes zu bitten, um ihr eigenes Buch zu beginnen. Denn in den ersten Monaten, als sie zum Schweigen verurteilt war, in den langen Winternächten, die sie einsam in ihrem Bett gelegen hatte, war in ihr die Idee gewachsen, ein Stundenbuch mit Szenen aus ihrem eigenen Leben herzustellen, ein Leben, über das sie mit niemandem sonst sprechen konnte, das sie aufgegeben hatte, um nicht irgendwann verbraucht und ausgezehrt in der Gosse zu landen.
»Und wozu soll das dienen, Anna?«, wollte Dionysia wissen.
»Ich möchte für meinen gütigen Wohltäter, dem Herren Hrabanus Valens, ein Stundenbuch anfertigen.«
»Gleich ein ganzes Stundenbuch? Du bist mutig, Kind.«
»Nun, ich habe Zeit, Mutter Dionysia. Es muss nichtin diesem Jahr oder im nächsten fertig werden, denke ich. Aber seht, er hat sich großzügig für mich verwandt, und ich will es ihm auf irgendeine Weise danken.«
»Und die Arbeiten an diesem Buch hier?«
»Werde ich selbstverständlich weiter für Euch durchführen. Aber ich habe nach der Vesper oft Langeweile, denn die Bücher, die ihr besitzt, kenne ich schon.«
Die alte Kanonisse erlaubte sich ein trockenes Schnauben.
»Kind, du kannst noch immer in der Bibel lesen. Dieses Buch kennt man nie zur Gänze.«
»Das ist schon richtig. Aber regelmäßig wenn ich darin lese, sehe ich Bilder zu den Texten und möchte sie malen.«
»Schon gut, schon gut. Du sollst dein Pergament bekommen.«
So begann Anna mit der Vorbereitung für ihr eigenes Stundenbuch. Sie hatte große Blätter feinstes Pergament erworben, das zunächst in ein bestimmtes Raster unterteilt werden musste, um so die Felder für Text, Miniatur und Rahmen vorzugeben. Dazu wurde die rechteckige Lage einmal diagonal in der Längsrichtung gefaltet und einmal in der Mitte zusammengeschlagen, so dass sich insgesamt vier Seiten aus dem Blatt ergaben. Jede der vier Seiten war noch einmal diagonal unterteilt worden, und diese vier Linien gaben Anna die Aufteilung zwischen Bild und Rahmen vor. Als sie alle Bögen derart präpariert hatte, begann sie mit der Darstellung der ersten Hore. Es war nicht die Laudes, wie es zu erwarten gewesen wäre, sondern die Vesper, das Ende des Arbeitstages, die sie wählte. Sie tat dies, weil es die Zeit darstellte, die sie nun dafür nutzte, Eigenes zu gestalten. Lange hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, welches Thema sie dieser Stunde zu Grunde legen sollte.Schließlich hatte sie entschieden, die Vesper dem Mond zu widmen, jenem Gestirn, das die weiblichen Gezeiten bestimmte, und dennoch nur Spiegel war, nicht Bild, Symbol des Wandels zwischen Hell und Dunkel, dessen Licht die Nacht mit geheimnisvollen Schatten füllte. Das Gestirn, dessen Einfluss die Menschen traumverloren machte oder manchmal hellsichtig, sie in die Abgründe beängstigender Gedanken und Vorstellungen lockte, die sie verwirrten und gelegentlich wahnsinnig machten. Doch die runde Scheibe des Vollmonds erinnerte sie auch an die tröstliche Gegenwart einer mütterlichen Freundin. Und als sie den Silbergriffel zur Hand nahm, um die erste Skizze zu entwerfen, war es Horsels rundes Gesicht, das sie in ihm sah. Anna lächelte. Ja, das war ein guter Anfang – Horsel, die Amme mit einem rauen, aber dennoch fürsorglichen Wesen, in ihrem Wirkungskreis abzubilden.
Die Bilder und die zugehörigen Texte würden die anderen Kanonissen sicher in Erstaunen setzen, dachte sie, als sie die Bögen sorgfältig in ihrem Schreibpult verbarg. Hrabanus Valens hingegen würde verstehen.
Sie hatte ihn seit ihrem Eintritt in das Stift nicht wieder gesehen, aber das war in gewisser Weise ihre Schuld. Sie hätte ihn durchaus mit Einwilligung der Äbtissin besuchen dürfen. Die Sternengasse lag nur wenige Schritte von Maria im Kapitol entfernt. Doch die wenigen Wochen in seinem Heim waren nicht eben dazu angetan, sich in die dort herrschende Gesellschaft zurückzusehnen. Aber auch
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