Der Bernsteinring: Roman
Horsel hatte Anna seither nicht mehr gesehen. Das Haus auf dem Katzenbauch war an andere vermietet worden, und in eine derbe Schenke, wie sie ihre Amme betrieb, konnte sich die Stiftjungfer Anna selbstverständlich nicht begeben.
Doch das Bild von der properen Wirtin entstand, dieeinem Gassenjungen einen Kanten Brot zusteckte und fröhlichen Zechern Bier ausschenkte. Ein Bild voller Lebensfreude und Fürsorge, so wie Anna Horsel in Erinnerung hatte.
Und dann wurde Annas Leben noch einmal auf den Kopf gestellt
11. Kapitel
Rosa tritt auf und ein
»Dies ist Rosa von Gudenau. Sie wird das Zimmer mit dir teilen, Anna. Sie ist genauso alt wie du, und ich bin sicher, ihr werdet euch gut vertragen!«, sagte die Priorin.
Die junge Frau, die während der Kapitelversammlung vorgestellt worden war, stand mit gesenktem Haupt hinter der fülligen Matrone, die für die Verwaltungsaufgaben des Stifts zuständig war. Anna hatte, seit sie bei den Kanonissen eingezogen war, ihre eigene, kleine Kammer bewohnt, die sie mit niemandem zu teilen brauchte. Doch nun waren alle Räume belegt, und die beiden jüngsten Mitglieder mussten sich der daraus erwachsenen Unbequemlichkeit anpassen.
»Begrüße Anna di Nezza, Rosa. Deine Truhe werden die Mägde gleich hochbringen, und eine Bettstatt wird sich noch finden.«
Bescheiden trat Rosa von Gudenau ein, und als die Priorin die Treppe hinuntergegangen war, hob sie den Blick. Stiefmütterchenbraune Augen betrachteten Anna von oben bis unten. Anna tat es ihr gleich. Sie maß ebenfalls jeden Zoll der jungen Frau. Sie fand ihre blonden Haare schön, doch verblüffte sie der Gegensatz zu der ungewöhnlich dunklen Gesichtsfarbe.
Mit einem Wortschwall in einem ihr unverständlichen Idiom überschüttete die Neuangekommene Anna und grinste dabei mehr und mehr. Ihre Stimme klang rau und kehlig.
Anna wurde starr und hob herausfordernd den Kopf. Sie mochte die Sprache nicht verstehen, der Tonfall aber machte klar, es waren keine Höflichkeiten, die da geäußert wurden. Sehr akzentuiert und hochmütig fiel sie der Blonden ins Wort: »Sprich Latein mit mir, wenn du ansonsten keine menschenwürdige Sprache kennst.«
Verdutzt schwieg Rosa und meinte dann in einem leicht südlich gefärbten Dialekt: »Also, eines ist ganz sicher, aus Neapel stammst du nicht. Sonst würdest du deine heimische Zunge nämlich für durchaus menschenwürdig halten.«
»Und du bist alles andere als eine Edle von Gudenau, denn sonst würdest du nicht diese Zunge so fließend beherrschen!«
»O doch, das bin ich sehr wohl.«
»Nicht von Geburt!«
»Mein liebster Gemahl, edle Anna di Nezza, verstarb plötzlich und unerwartet vor drei Monaten. Was soll eine arme, trauernde Witwe wohl anderes tun, als ihr Leben in Gebet und Kontemplation zu verbringen.«
»Nichts anderes offensichtlich als die arme, trauernde Waise eines neapolitanischen Adligen.«
»Na gut.«
Rosa setzte sich auf die Bettkante und sah sich in der Kammer um. Die beiden Wandteppiche hatte Anna mitgenommen und auch ihr Lesepult und die wenigen Bücher, die sie besaß. Ein Wollteppich, schon etwas abgetreten, lag auf den dunklen Bohlen, eine schlichte Truhe verbarg ihre Kleider und Hemden. Auf dem Pult stand ein zierlich geschnitztes Abbild von Annas Namenspatronin, der heiligen Anna, Mutter Marias, gebeugt über ihre Tochter, der sie mit geduldigem Blick aus einem Buch das Lesen beibrachte.
»Heiliger Vitus, eine Gelehrte!«
»Man braucht eine Beschäftigung.«
»Mich wundert’s, dass du noch die Kraft dazu aufbringen kannst, wo du doch deine Nase die ganze Zeit so hoch tragen musst!«
»Besser hochnäsig und gebildet, als rotznäsig und eingebildet!«
Anna rauschte aus dem Raum und zog sich ins Skriptorium zurück. Die Szene um die Schenke herum wurde durch eine blonde Frau bereichert, die ausgeglitten und in einen Misthaufen gefallen war. Sie hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Rosa.
Das Verhältnis zwischen Rosa und Anna blieb die nächsten drei Monate ausnehmend gespannt. Beide beobachteten einander mit misstrauischer Aufmerksamkeit, doch sie wechselten nur die notwendigsten Worte miteinander. Anna fiel auf, dass ihre Zimmergenossin über eine beachtliche Nachahmungsgabe verfügte. Sehr schnell kopierte sie in der Gesellschaft der anderen das vornehme, gezierte Benehmen der Kanonissen, konnte ein Bild der kontemplativen Versunkenheit bieten und zudem das der inbrünstig Betenden. Sie hatte auch ihre Stimme leiser und sanfter
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