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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Schatten auszunutzen, machten sie sich auf den Rückweg.
    In der Höhe der Schmiergasse geschah das Unglück.
    Schreiend kam ein Pulk Menschen um die Ecke gelaufen und hätte sie beinahe umgerannt. Anna drängte Dionysia an eine Hauswand und stellte sich vor sie.
    »Der Bär ist los! Der Bär ist los!«, brüllte ein Maurer und warf seine Speiskelle in die Gosse. Eine Mutter kreischte auf und zerrte ihre zwei Kinder hinter sich her.
    »Der Bär ist los! Er wird uns fressen!«, schrie eine junge, dralle Magd und raffte die Röcke bis hoch zur Taille, um besser laufen zu können.
    »Der Bär ist los! Gnade Gott uns allen!«, röhrte ein schwarz berockter Mönch, dessen feistes Gesicht rot glühte.
    »Der Bär ist los! Holt die Wachen!«, dröhnte ein Pastetenbäcker, dessen Stand umkippte, als er die Flucht ergriff.
    Sie stürmten vorbei, und hinter ihnen trottete die braune Bärin.
    »Ich kann nicht...!«, japste Dionysia.
    »Psst, schon gut.«
    »Lauf, Kind.«
    »Nein, Mutter Dionysia. Bleibt ganz still stehen. Dann bemerkt das Tier uns nicht.«
    Verzweifelt versuchte die alte Kanonisse, ihr Keuchen zu unterdrücken. Der Bär schien seine ungewohnte Freiheitzu genießen und rieb sich den Rücken an einem
 Baumstamm. Die Straße war inzwischen menschenleer.
    Bis auf eine kleine, schmutzige Gestalt in Lumpen. Die ging ganz langsam auf den Bären zu und murmelte irgendeinen Singsang vor sich hin. Die Bärin bemerkte das Kind und drehte sich behäbig um. Anna hielt den Atem an.
    Mit einer ausgestreckten Hand, in der sich ein staubiges, angebissenes Stück Honigkuchen befand, näherte es sich weiter. Die Bärin brummte und trabte auf den Kleinen zu. Rückwärts gehend lockte der so das Tier von Anna und Dionysia fort.
    Wahrscheinlich wäre es ihm sogar gelungen, die Bärin zurück in das Lager zu führen, wären nicht in dem Augenblick die herbeigerufenen Stadtsoldaten im Laufschritt erschienen. Einer von ihnen trug eine Donnerbüchse in der Hand, und als sie des Bären ansichtig wurden, kniete der Mann nieder, zündete eine Lunte an und zielte auf das sich langsam entfernende Tier. Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen, Pulverqualm stieg schwarz auf, beißend von Geruch. Die Bärin gab einen qualvollen Todesschrei von sich und stürzte in den Straßenstaub. Noch qualvoller aber schrie das Kind auf. Es rannte zu dem gefällten Pelzriesen und wollte nach seinem Kopf fassen, aber einer der Gaukler, der inzwischen herangeeilt war, riss es geistesgegenwärtig von dem sterbenden Tier fort.
    Anna hätte sich gerne um den Kleinen gekümmert, doch es war Dionysia, die ihre ganze Aufmerksamkeit verlangte. Sie war wortlos zusammengebrochen und lag, halb an die Hauswand gelehnt am Boden. Anna fühlte nach ihrem Herzschlag. Ganz unregelmäßig klopfte es noch, und ihr Atem ging rasselnd. Sie brauchte Hilfe.
    Die Menschenmenge hatte sich wieder eingefunden,weidete sich an dem Drama der Bärenhatz und kümmerte sich keinen Deut um die beiden Kanonissen. Doch Anna, verwundert über sich selbst, stand auf, schnappte sich einen halbwüchsigen Töpfergesellen und fragte ihn: »Wie heißt du?«
    »Iwan!«, grinste der und zeigte eine schwarze Zahnlücke.
    »Hier gibt es eine Schenke, ›Zum vollen Krug‹. Wird die noch von der Becker’schen Horsel betrieben?« »Sischer dat!«
    »Dann lauf zu ihr hin und sag, Anna Dennes braucht ihre Hilfe. Hier, das wird dir den Weg versüßen!« Sie zeigte ihm eine Silbermünze, nach der er gierig greifen wollte. Sie zog die Hand zurück. »Wenn du mit ihr wiederkommst!«
    Ohne weiteres Wort rannte er los.
    Es dauert nicht lange, und eine propere Wirtsfrau segelte durch die Menschentraube, die sich vor ihr teilte wie das Rote Meer vor Moses. Es war sechs Jahre her, dass Anna Horsel gesehen hatte, doch sie erkannte sie sofort. Viel hatte sie sich nicht verändert, ihre alte Amme. Zwar war ihr Gesicht noch etwas runder geworden und auch ihre Hüften, die Strähnen unter der weißen Haube ein wenig grauer. Aber es war Horsel, die Frau, die Anna seit ihrer Kindheit betreut hatte.
    »Ehrwürdige Schwester!«, sagte sie, als sie Anna erreicht hatte. »Was kann ich für Euch tun?«
    »Meine Begleiterin ist ohnmächtig geworden. Der Bär, der Schuss, die Hitze – es war zu viel für sie. Ich muss sie von der Gasse fortbringen. Hast du eine Stube für sie?«
    »Hab ich. Iwan, hol ein Brett vom Hof.«
    Die Münze tat noch immer ihre Wirkung, und kurz darauf betrat Anna, die mit Iwan zusammen das Brett trug, auf

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