Der Bernsteinring: Roman
Getümmel. Zuunterst befand sich ein schmächtiges, strohblondes Geschöpf, das Verwünschungen kreischte. Anna drückte Dionysia kurzerhand das Bündel in den Arm und griff ein. Den halbwüchsigen Jungen, der den kleinen mit dem Kopf auf den Boden schlagen wollte, packte sie gerade noch rechtzeitig an seinem schmutzigen Kragen und zerrte ihn von seinem Opfer weg, dem zweiten, der zu einem Fußtritt ausholte, verpasste sie eine Ohrfeige, die nur so klatschte, und der dritte setzte unter ihren flammenden Augen zum Rückzug an.
»Feiglinge! Drei Große gegen einen Kleinen!«, fauchte sie die empört schnaufenden Helden an. Und dann sagte sie nicht unfreundlich zu dem verschmierten, zerlumpten Geschöpf zu ihren Füßen: »Steh auf, Junge! Was hat die Bengel dazu gebracht, über dich herzufallen?«
»Die haben den Bären geärgert!«
»Den was?«
»Da, die Bärin. Die ist lieb, die alte Bärin, ehrlich. Aber die haben sie gepiekt und mit Steinen beworfen.«
Anna blinzelte, dann erkannte sie im Schatten einesWagens, an einen Pfahl gebunden, einen gewaltigen braunen Koloss, der auf seinen vier Pfoten stand und misstrauisch seinen allmählich abziehenden Quälgeistern nachsah.
»Oh, ich verstehe.«
»Ich weiß nicht, ob Ihr wirklich versteht, Schwester Nonne. Das ist ein Tanzbär. Eine Sie. Die Gaukler haben sie mitgebracht. Sie ist ganz friedlich und mag gelbe Rüben und Äpfel. Ich gebe ihr manchmal welche. Wenn ich sie finde«, fügte das magere Geschöpf hinzu, wohlwissend, dass »finden« ein Euphemismus war.
»Du würdest sie besser selbst essen.«
»Ach, das macht nichts. Ich mag eben die Bärin. Die ist so wie eine Mutter, wisst Ihr.«
Der Kleine schniefte kräftig und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab.
Anna musste lächeln. Sie griff in ihre Tasche und holte zwei kleine Kupfermünzen heraus.
»Man soll gut zu Tieren sein, das sagt schon der heilige Franziskus. Darum sollt ihr beide ein Festmahl haben. Da vorne ist ein Bäcker, der frischen Honigkuchen verkauft. Hol dir und der Bärenmutter einen.«
»Oooch, danke, Schwester Nonne!«
Das Kind stob davon, und Anna nahm der Schreiberin wieder das schwere Paket ab.
»Du bist sehr unvorsichtig, Anna. Das ist doch genau das Gesindel, von dem du vorhin gesprochen hast.«
»Mutter Dionysia, ich kann es nicht mit ansehen, wenn Schwächere unter der Willkür von Stärkeren leiden.«
Die alte Kanonisse hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und schmunzelte dabei leicht.
»Nein, Anna. Das kannst du wohl nicht. Gott segne deine barmherzige Seele.«
»Ach, so barmherzig ist die gar nicht.«
Schweigend setzten sie ihren Weg Richtung Zeughaus fort, wo sich das Haus des Buchbinders befand. Es war eine sehr befriedigende Unterhaltung, die sie mit dem Meister in seiner Werkstatt führten. Das Evangelistar würde in dunkelblaues Leder eingebunden werden, eine aufwändige Goldprägung erhalten und mit zwei prächtigen Verschlüssen versehen werden. Bewundernd betrachtete der Buchbinder die einzelnen Seiten mit ihren farbigen Verzierungen, sorgfältig ausgeführten Texten und Miniaturen aus dem biblischen Leben.
»Es gibt nicht mehr viele, die eine solche Arbeit ausführen, ehrwürdige Schwestern. Die schwarze Kunst der Buchdruckerei nimmt den Schreibern das Brot. Jetzt wird die Druckerpresse bedient, und Dutzende von Seiten entstehen auf billigem Papier. Was lohnt es da noch, kostbare Einbände herzustellen.«
»Da mögt Ihr Recht haben, Meister. Doch ist es nicht auch eine gute Tat, dass nun viel mehr Menschen die Schriften der Gelehrten und die frommen Werke der Weisen lesen können?«
»Glaubt Ihr ernsthaft, dass das von Nutzen ist? Die Menschen wollen nicht gelehrtes oder weises Schriftgut lesen, sie wollen über Helden und willfährige Frauen lesen. So wie sie den Komödianten zuschauen und lieber Moritaten lauschen, als der Predigt über die Leiden unseres Herren.«
Dionysia gab Anna einen kleinen Wink, sich nicht weiter dazu zu äußern. Der Mann mochte ein Künstler seines Faches sein, aber er war offensichtlich verbittert über den Fortschritt, der ihm sein Geschäft, wie er meinte, verdarb.
»Mein Kopf schmerzt mich von dieser drückenden Hitze,Anna. Lass uns zurückgehen, bevor die Sonne noch höher steigt.«
»Natürlich, Mutter Dionysia.«
Anna musste die alte Schreibmeisterin am Ellenbogen fassen, als sie auf die sonnendurchglühte Gasse traten, denn sie schwankte ein wenig. Sehr langsam, und stets darauf bedacht, möglichst den
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