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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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sie, wartete im Kreuzgang, den Stapel Seiten sehr säuberlich zwischen zwei dünne Holzbretter gesteckt und in ein festes Wachstuch gewickelt. Anna begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und nahm ihr die Last ab.
    »Wie fühlt Ihr Euch heute Morgen, Mutter Dionysia? Ich sah Euch nicht in der Kirche?«
    «Ach Kindchen!«, seufzte die alte Stiftsdame,«das schwere Wetter lastet auf mir. Du bist jung und genießt die Wärme, aber mir verursacht sie Schwindel und Ohrensausen.«
    «Soll ich nicht lieber alleine gehen? Es wäre besser, Ihr ruhtet Euch aus. Auch ich merke, es könnte sich etwas zusammenbrauen. Wahrscheinlich wird es heute noch ein Gewitter geben.«
    «Ganz gewiss wird es eines geben. Wir sollten uns sputen, Anna. So viel Kraft habe ich noch, dass ich dieses Werk zu Ende bringe.«
    So machten sie sich langsam auf den Weg. Schnelles Ausschreiten wäre aber ohnehin nicht möglich gewesen, denn die Hohe Straße, die sie Richtung Dombaustelle nahmen, wimmelte von Leben. Eng an eng schmiegten sich die schmalbrüstigen Fachwerkhäuser, deren obere Stockwerke weit über die Straße ragten und die Eingänge in Schatten hüllten. Unter diesen Vorbauten saßen an trockenen und warmen Tagen die Handwerker und gingen ihrem Gewerbe nach, boten Pastetenbäcker und Suppenköche ihre Gerichte feil, spielten dann und wann kleine Kinder mit Murmeln oder schlugen die bunt bemalten Holzkreisel auf dem Pflaster. Zwischen all diese Beschäftigungen drängten sich die Fuhrwerke und Karren, beladen mit allerlei Waren oder Passagieren. Fässer mit gesalzenem Hering hinterließen eine fischig riechende, feuchte Spur, krakeelende Hühner in einem engen Weidenkäfig überschrien die Bäuerin, die mit der Fischmengerschen stritt. Ein schwerer Wagen rumpelte heran, hoch beladen mit hölzernen Weinfässern und ein bis über die Ohren mit Heu beladenes Eselchen trottet an einer Leine hinter einem schmuddeligen Jungen her. Drei Landsknechte in roten, grünen und gelben geschlitzten Wämsern, zweifarbigen Hosen und federgeschmücktenBaretten stolzierten an ihnen vorbei und bedachten die Wäscherinnen mit frechen Bemerkungen, die mit ihren Körben zum Brunnen gingen. Eine Gruppe Dominikaner in ihren weißen Kutten, die Hände tief in den Ärmeln vergraben, sandten ihnen missbilligende Blicke zu.
    »Scheint ein gutes Jahr zu werden!«, meinte Dionysia, die einem mit Mehlsäcken beladenen Fuhrwerk auswich und dabei beinahe in einen Haufen Pferdeäpfel getreten wäre. »Die Ernte war gut, sagen die Leute, und der Handel blüht wieder, seit König Maximilian den Streit um den Rheinzoll beigelegt hat.«
    »So gut, dass es viel Gesindel in die Stadt lockt.«
    »Ja, das allerdings auch. Halte das Bündel nur gut fest, Anna.«
    »Keine Sorge, ich habe schnelle Füße!«
    Sie näherten sich der Dombaustelle, wo der Südturm mit seinem knarrenden Kran aufragte. Er war in den vergangenen Jahren nicht sonderlich viel weiter nach oben gewachsen. Das Geld für den Bau war knapp geworden. Immerhin gab es ein prächtiges Geläut, und wenn die Pretiosa, die Speziosa und die Dreikönigsglocke ihre Stimmen über die Stadt erschallen ließen, dann fühlte man die wahrhaftige Erhebung.
    Am Dom bogen die beiden Kanonissen nach Westen ab, vorbei an der Rechtsschule der Dominikaner und entlang der sechzehn Mietshäuser, denen die Straße den Namen »Unter Sachsenhausen«, verdankte. Sie hatten diese Gasse gewählt, um nicht durch die Schmierstraße wandern zu müssen, die nicht nur wegen der Talgmenger und ihrem übel riechenden Gewerbe unangenehm zu begehen war, sondern auch, weil sie als beliebtes Quartier für Gaukler und anderes fahrendes Volk galt. Doch es ließ sich nicht vermeiden, einer solchen Truppe zu begegnen, die sich auf einem grünen Fleckchenam Hundsrücken niedergelassen hatten. Ein paar Wagen bildeten ein halb offenes Geviert, Wäsche flatterte an den zwischen ihnen gespannten Leinen. Über einem offenen Feuer hing an einem Dreibein ein Kessel, in dem eine Frau rührte. Ein Mädchen putzte Gemüse, und zwei Hunde stritten sich knurrend um einen Knochen. Das alles war nicht besonders aufregend, und Anna wäre sicher zielstrebig an dieser Versammlung vorbeigegangen, ohne ihnen mehr als einen Seitenblick zu gönnen, hätte nicht plötzlich Geschrei ihre Aufmerksamkeit geweckt. Es kam aus einer schattigen Ecke, und plötzlich rollten ihr zwei miteinander raufende Buben vor die Füße. Ein dritter und vierter Junge folgten und warfen sich ins

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