Der Beschütze
wie sie mit dem Messer vor sich herumfuchtelte.
»Jonas …«, begann sie – und dann fing sie an zu weinen. »Jonas, ich glaube, du hast den Knopf in der Nacht verloren, als du Margaret Priddy umgebracht hast.«
»Lucy! …«
»Hör zu! Du hast gesagt, du würdest mir zuhören.«
»Tue ich doch«, beteuerte er, und diesmal stimmte es.
»Das warst nicht wirklich du, Jonas. Ich weiß, du würdest nie, niemals jemandem etwas tun. Das glaube ich nicht nur einfach nicht, das weiß ich. Aber ich glaube, irgendein … Teil von dir hat Margaret und Yvonne und die anderen umgebracht. Ich weiß nicht, warum, aber du hast doch so enorm unter Druck gestanden, Jonas! Das mit deinen Eltern, und der Job, und dann war ich so eine Last für dich … Und dann… und dann, als ich mich nicht mal umbringen konnte …« Lucys Worte erstarben, doch sie riss sich zusammen und fuhr fort. »Ich weiß, wie viel Angst du da hattest, Jonas. Ich habe es in deinem Gesicht gesehen! Du warst wie ein verängstigter kleiner Junge, wie ein …«
»Sei still!«
Lucy verstummte bei Jonas’ Worten, die mit einer leisen, gepressten Vehemenz hervorkamen, die sie bei ihm noch nie erlebt hatte.
»Jonas?«, fragte sie vorsichtig.
»Sei still! Du weckst ihn noch auf!«
Lucy schwankte ungläubig. Das war nicht Jonas’ Stimme. Sie war rauer und älter, und sein Gesicht hatte sich verändert. Lucy suchte nach der Weichheit in Jonas’ Augen und fand nur schwarzes Nichts.
»Wer ist da?«, flüsterte sie.
»Geht dich nichts an«, blaffte er.
»Wen wecke ich auf?«
»Den Jungen. Wir lassen ihn schlafen.«
»Wer ist wir?«
»Ich und Jonas. Allerdings war der wirklich verdammt noch zu überhaupt nichts nutze. Macht seinen Job nicht.«
Lucy hielt den Atem an.
Mach deinen Job, Heulsuse.
»Was ist Jonas’ Job?«
»Den Jungen beschützen, natürlich. Das war schon immer sein Job. Er ist der Beschützer.«
»Und wer bist du?«
Eine lange Pause entstand.
»Ich bin der Killer.«
Irgendetwas in Lucy hoffte, dass sie vielleicht träumte, doch die Kälte und der Geruch von Mäusedreck und das Messer in ihren Händen kamen ihr sehr real vor. Sie gab sich allergrößte Mühe, ganz sanft und schlicht zu sprechen, um diesen Menschen nicht zu provozieren, der nicht mehr ihr Mann war.
»Wer ist der Junge?«
»Der Junge ist wir. Er ist der, der wir früher gewesen sind.«
»Wovor müsst ihr ihn denn beschützen?«
Schweigen.
»Wie kann Jonas den Jungen schützen?«
Der Mann, der nicht Jonas war, zuckte die Schultern, machte aber ein verschlagenes Gesicht. Er wusste es.
»Wieso braucht der Junge Schutz? Was ist ihm passiert?«
»Sei still!« Der Mann, der nicht ihr Ehemann war, stellte einen zornigen Fuß auf die Bodendielen. »Du weckst ihn noch auf!«
Lucy sprach rasch und behutsam, versuchte, an dem Killer vorbeizureden und Jonas zu erreichen. »Hat es etwas mit dem Brand damals zu tun, Jonas? Was ist dir und Danny da oben auf der Farm passiert? Hat dir jemand etwas getan, Liebling? Hat jemand …«
»Nicht! Bitte nicht!«
Riesige Tränen traten Jonas in die Augen, und sein Gesicht entspannte sich augenblicklich zu etwas so Jungem, Verletzlichem, dass Lucy heftig schluckte. Wie durch Zauberei stand plötzlich der kleine Junge, der an ihrem Krankenhausbett gewartet hatte, hier auf dem Dachboden.
»Jonas?«, flüsterte sie.
Der Junge/Mann schüttelte den Kopf und rieb mit dem Ballen einer rauen Hand die Tränen weg. »Bitte sprich nicht davon. Bitte mach nicht, dass ich es sagen muss.« Dann verbarg
er das Gesicht in den Händen, und seine junge Stimme klang halb erstickt. »Wo sind wir hier? Ich will nicht hier sein. Mach, dass ich nicht hier sein muss.«
Es brach ihr das Herz. Sie empfand tatsächlich Schmerzen, als würde jenes zarte Organ entzweigerissen, und unwillkürlich legte sie eine Hand auf die Brust und ballte den blauen Pullover in der Faust zusammen.
»Jonas«, flüsterte sie heiser.
Langsam nahm Jonas die Hände vom Gesicht und sah sie an, und Lucy schluchzte tief auf vor Erleichterung, als sie ihren Mann wieder dort stehen sah.
»Ich würde doch niemals jemandem etwas tun, Lu. Das weißt du doch.«
Es war, als hätte es die letzten zwei Minuten nie gegeben. Keinen Killer mit kalten, toten Augen, keinen von Erinnerungen gepeinigten Klein-Jonas. Erinnerungen an etwas so Schreckliches, dass es ihn auseinandergesprengt hatte. Diese Bruchstücke des Ganzen lebten getrennte Leben – der Junge schlief, Jonas
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