Der Besuch der alten Dame (German Edition)
Dort wirst du bleiben. Bei mir.
ILL Nun ist auch ›O Heimat süß und hold‹ zu Ende.
Gatte IX kommt zurück.
CLAIRE ZACHANASSIAN Der Nobelpreisträger. Kommt von seiner Ruine. Nun, Zoby?
GATTE IX Frühchristlich. Von den Hunnen zerstört.
CLAIRE ZACHANASSIAN Schade. Deinen Arm. Die Sänfte, Roby und Toby.
Sie besteigt die Sänfte.
CLAIRE ZACHANASSIAN Adieu, Alfred.
ILL Adieu, Klara.
Die Sänfte wird nach hinten getragen, Ill bleibt auf der Bank sitzen. Die Bäume legen ihre Zweige fort. Von oben senkt sich ein Theaterportal herunter mit den üblichen Vorhängen und Drapierungen, Inschrift ›Ernst ist das Leben, heiter die Kunst‹. Aus dem Hintergrund kommt der Polizist in einer neuen, prächtigen Uniform, setzt sich zu Ill. Ein Radioreporter kommt, beginnt ins Mikrophon zu reden, während sich die Güllener versammeln. Alles in neuer feierlicher Kleidung, alles im Frack. Überall Pressephotographen, Journalisten, Filmkameras.
DER RADIOSPRECHER Meine Damen und Herren. Nach den Aufnahmen im Geburtshaus und dem Gespräch mit dem Pfarrer wohnen wir einem Gemeindeanlaß bei. Wir kommen zum Höhepunkt des Besuches, den Frau Claire Zachanassian ihrem ebenso sympathischen wie gemütlichen Heimatstädtchen abstattet. Zwar ist die berühmte Frau nicht zugegen, doch wird der Bürgermeister in ihrem Namen eine wichtige Erklärung abgeben. Wir befinden uns im Theatersaal im ›Goldenen Apostel‹, in jenem Hotel, in welchem Goethe übernachtete. Auf der Bühne, die sonst Vereinsanlässen dient und den Gastvorstellungen des Kalberstädter Schauspielhauses, versammeln sich die Männer. Nach alter Sitte – wie der Bürgermeister eben informierte. Die Frauen befinden sich im Zuschauerraum – auch dies Tradition. Feierliche Stimmung, die Spannung außerordentlich, die Filmwochenschauen sind hergefahren, meine Kollegen vom Fernsehen, Reporter aus aller Welt, und nun beginnt der Bürgermeister zu reden.
Der Reporter geht mit dem Mikrophon zum Bürgermeister, der in der Mitte der Bühne steht, die Männer von Güllen im Halbkreis um ihn.
DER BÜRGERMEISTER Ich heiße die Gemeinde von Güllen willkommen. Ich eröffne die Versammlung. Traktandum: Ein einziges. Ich habe die Ehre, bekanntgeben zu dürfen, daß Frau Claire Zachanassian, die Tochter unseres bedeutenden Mitbürgers, des Architekten Gottfried Wäscher, beabsichtigt, uns eine Milliarde zu schenken.
Ein Raunen geht durch die Presse.
DER BÜRGERMEISTER Fünfhundert Millionen der Stadt, fünfhundert Millionen an alle Bürger verteilt.
Stille.
DER RADIOSPRECHER gedämpft Liebe Hörerinnen und Hörer. Eine Riesensensation. Eine Stiftung, die mit einem Schlag die Einwohner des Städtchens zu wohlhabenden Leuten macht und damit eines der größten sozialen Experimente unserer Epoche darstellt. Die Gemeinde ist denn auch wie benommen. Totenstille. Ergriffenheit auf allen Gesichtern.
DER BÜRGERMEISTER Ich gebe dem Lehrer das Wort.
Der Radioreporter nähert sich mit dem Mikrophon dem Lehrer.
DER LEHRER Güllener. Wir müssen uns klar sein, daß Frau Zachanassian mit dieser Schenkung etwas Bestimmtes will. Was ist dieses Bestimmte? Will sie uns mit Geld beglücken, mit Gold überhäufen, die Wagnerwerke sanieren, die Platz-an-der-Sonne-Hütte, Bockmann? Ihr wißt, daß dies nicht so ist. Frau Claire Zachanassian plant Wichtigeres. Sie will für ihre Milliarde Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit. Sie will, daß sich unser Gemeinwesen in ein gerechtes verwandle. Diese Forderung läßt uns stutzen. Waren wir denn nicht ein gerechtes Gemeinwesen?
DER ERSTE Nie!
DER ZWEITE Wir duldeten ein Verbrechen!
DER DRITTE Ein Fehlurteil!
DER VIERTE Meineid!
EINE FRAUENSTIMME Einen Schuft!
ANDERE STIMMEN Sehr richtig!
DER LEHRER Gemeinde von Güllen! Dies der bittere Tatbestand: Wir duldeten die Ungerechtigkeit. Ich erkenne nun durchaus die materielle Möglichkeit, die uns die Milliarde bietet; ich übersehe keineswegs, daß die Armut die Ursache von so viel Schlimmem, Bitterem ist, und dennoch: Es geht nicht um Geld, – Riesenbeifall – es geht nicht um Wohlstand und Wohlleben, nicht um Luxus, es geht darum, ob wir Gerechtigkeit verwirklichen wollen, und nicht nur sie, sondern auch all die Ideale, für die unsere Altvordern gelebt und gestritten hatten und für die sie gestorben sind, die den Wert unseres Abendlandes ausmachen! Riesenbeifall. Die Freiheit steht auf dem Spiel, wenn die Nächstenliebe verletzt, das Gebot, die Schwachen zu
Weitere Kostenlose Bücher